Der BGH hat diesen Sommer zu Darlegungen im Kartellschadensersatzprozess entschieden. Im Leitsatz zu dieser Entscheidung heißt es, für die Darlegung eines kartellbedingten Preishöhenschadens genüge es, wenn der Kläger alle greifbaren Anhaltspunkte für die nach § 287 ZPO vorzunehmende Schadensschätzung vorträgt, zu deren Darlegung er ohne weiteres in der Lage ist. Nicht dagegen müsse der Kläger eine Vergleichsmarktanalyse vorlegen. Vielmehr können sich Anhaltspunkte auch aus sonstigen Indizien je nach den Umständen des Einzelfalls ergeben.
Hintergrund
Die Kommission hatte im Juli 2016 durch Beschluss festgestellt, dass mehrere LKW-Hersteller Absprachen über Preise und Bruttolistenpreiserhöhungen sowie über den Zeitplan und die Weitergabe von Kosten für die Einführung von neuen Technologien vorgenommen hatten. Dies stellte einen Verstoß gegen das Verbot wettbewerbsbeschränkender abgestimmter Verhaltensweisen dar. Dieser Verstoß dauerte demnach von Januar 1997 bis Januar 2011 an. Die Kommission verhängte teilweise empfindliche Bußgelder. Ein Unternehmen konnte zudem von der Kronzeugenregelung profitieren und bekam kein Bußgeld auferlegt. Die Beklagten in dem Verfahren vor dem BGH waren Teil dieser Absprachen.
Der Kläger hatte in dem fraglichen Zeitraum von den Beklagten insgesamt 112 LKW erworben. Er verlangte nun gestützt auf den Kommissionsbeschluss Kartellschadensersatz. Hierzu zog er die sogenannte Oxera-Studie 2009 heran. Diese war noch von der EU-Kommission in Auftrag gegeben worden, um Kartellschäden quantifizierbar zu machen. Laut dieser Studie führen Kartelle im Median zu einem kartellbedingten Preisaufschlag von 18 % des gezahlten Preises. Auf diese Informationen gestützt berechnete der Kläger seinen individuellen Preisaufschlag mit 15 % des jeweiligen Erwerbspreises und verlangte diesen zurück. Insgesamt ergab sich dazu ein geforderter Schadensersatz in Höhe von mehr als 1,5 Mio. EUR.
Ablehnung des Kartellschadensersatzes in den Instanzen
Vor dem LG Leipzig und dem OLG Dresden hatte der Kläger hiermit keinen Erfolg. Grund dafür war jedoch nicht die Frage, ob ein Verstoß vorliegt. Die Kommission hatte den Verstoß gegen das Verbot aus Art. 101 Abs. 1 AEUV binden festgestellt. Das Berufungsgericht sah die 112 erworbenen LKW als kartellbefangen an.
Obwohl also ein haftungsbegründender Verstoß gegen ein kartellrechtliches Verbot besteht und obwohl auch der Kläger hiervon betroffen war, hat das Berufungsgericht die Klage abgelehnt, weil ein Schaden nicht substantiiert sei. Es bestehe kein Erfahrungssatz, dass ein Kartell wie das vorliegende typischerweise einen Preiserhöhungsschaden bewirke. Entsprechend habe der Kläger nicht die für eine Schadensermittlung erforderlichen Anknüpfungstatsachen dargelegt.
Die Entscheidung des BGH
Der BGH hat diese Entscheidung des Berufungsgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück verwiesen. Das Berufungsgericht habe zu unrecht einen bezifferten Schaden nicht für feststellbar gehalten.
Voraussetzungen der fehlerfreien Schadensfeststellung nach § 287 Abs. 1 S. 1 ZPO
Maßgeblich für die Schadensfeststellung ist § 287 Abs. 1 S. 1 ZPO. Danach entscheidet das Gericht unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung, ob und in welcher Höhe ein Schaden entstanden ist. Dabei muss das Gericht im Wege eines Indizienbeweises feststellen, ob der von einem am Kartellverstoß beteiligten Unternehmen vereinbarte Preis wegen des Kartells höher war, als er ohne das Kartell gewesen wäre. Diese Feststellung muss das Gericht nach sogenannter freier Überzeugung treffen. Um diese freie Überzeugung verfahrensfehlerfrei zu gewinnen, muss das jeweilige Tatsachengericht folgende Voraussetzungen einhalten:
- Das Gericht muss sich umfassend mit den Umständen des Einzelfalls im Wege einer Gesamtwürdigung auseinandersetzen. Dabei muss es zum einen die Umstände einbeziehen, die festgestellt wurden. Zum anderen muss es für Vortrag mit Beweisangebot prüfen, ob die weiteren Indizien — sofern sie schlüssig wären — es von der Wahrheit der Tatsache überzeugen, die bewiesen werden soll.
- Zugunsten des Abnehmers eines an einer Kartellabsprache beteiligten Unternehmens besteht ein Erfahrungssatz, dass die im Rahmen des Kartells erzielten Preise im Schnitt über denjenigen liegen, die sich ohne die wettbewerbsbeschränkende Absprache gebildet hätten. Dieser Erfahrungssatz ist als tatsächliche Vermutung anzuwenden. Dafür spricht die wirtschaftliche Erfahrung, dass ein Kartell regelmäßig zu einem Mehrerlös der Beteiligten führt, weil diese sich weniger oder nicht im Wettbewerb durchsetzen müssen. Müssen sich Unternehmen nicht dem Preiswettbewerb stellen, so werden sie keine Preissenkungsspielräume nutzen. Je länger und nachhaltiger ein Kartell praktiziert wird, desto größer ist hiernach die Wahrscheinlichkeit von Auswirkungen auf das Preisniveau. Der Erfahrungssatz wirkt entsprechend gewichtiger, was das Gericht zu berücksichtigen hat.
- Der Indizienbeweis ist geführt, wenn das Gericht aufgrund der Gesamtwürdigung von der Richtigkeit der zu beweisenden Haupttatsache überzeugt ist. Misslungen ist er, wenn das Gericht noch Zweifel an der Wahrscheinlichkeit eines eingetretenen Schadens hat. Der Gegner muss dagegen nicht den Beweis des Gegenteils eines eingetretenen Schadens überzeugen.
- Die Schätzung der Höhe des Schadensersatzanspruchs ist nur eingeschränkt durch das Revisionsgericht überprüfbar. Beanstandet werden können folgende Fehler des Tatsachengerichts:
- Würdigung des Streitstoffs erfolgt nicht umfassend
- Würdigung des Streitstoffs erfolgt nicht widerspruchsfrei
- Würdigung des Streitstoffs erfolgt nicht ohne Verstoß gegen Denk- und Erfahrungssätze
- Rechtsgrundsätze der Schadenbemessung werden verkannt
- Wesentliche Bemessungsfaktoren werden außer Betracht gelassen
- Der Schätzung werden unrichtige Maßstäbe zugrunde gelegt
Festgestellte Rechtsfehler in der Sache
Der BGH erkennt in der Entscheidung des Berufungsgerichts eine Verkennung von Rechtsgrundsätzen der Schadensbemessung und eine widersprüchliche Würdigung des Streitstoffes.
Die Umstände, auf deren Grundlage sich die Schadenshöhe bemessen soll, muss der Anspruchsteller vortragen und gegebenenfalls beweisen. Es sei laut BGH jedoch selbst bei Lücken oder Unklarheiten im Vortrag nicht gerechtfertigt, dem jedenfalls in irgendeiner Höhe Geschädigten jeden Ersatz zu versagen. Mit anderen Worten: bei einem offensichtlichen Verstoß, hier bestandskräftig durch eine Kartellbehörde festgestellt, wird sich (irgend-)ein zu ersetzender Schaden ergeben. Die gerichtliche Schätzungsbefugnis in § 287 Abs. 1 S. 1 ZPO nehme danach in Kauf, dass das Ergebnis der Abschätzung mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt. Da sich der Geschädigte regelmäßig in einer Beweisnot befinde, müsse das Gericht gegebenenfalls einen Mindestschaden schätzen, wenn sich dieser aus den festgestellten Umständen begründen lässt.
Zunächst ist die Entscheidung zwar nur für einen sogenannten kartellbedingten Preishöhenschaden ergangen. Sie betrifft also Fälle, in denen Betroffene aufgrund einer wettbewerbswidrigen Absprache einen zu hohen Preis gezahlt hatten. Es gibt aber keinen Grund, die Erwägungen des BGH nicht auch auf andere Fallkonstellationen zu übertragen, bei denen ein Kartellschaden dargelegt werden muss.
Das Instanzgericht habe weiterhin zu hohe Anforderungen an die Darlegung der konkreten Anhaltspunkte für die Feststellung des Schadens gestellt. Für einen Kläger sei die Bezifferung eines Schadens mit sehr hohem Aufwand verbunden. Dies gelte noch einmal mehr bei einem Preishöhenschaden, da sich dieser aus einem Vergleich des vertraglich vereinbarten Preises mit dem hypothetischen Preis ergibt, der sich ohne den Kartellverstoß ergeben hätte. Wie sich die Absprache konkret auf den Marktpreis auswirken, hänge von einer Vielzahl von Faktoren ab, die nicht exakt wissenschaftlich beurteilt werden könnten. Die Ermittlung von Kartellschäden sei mit einem besonders hohen Maß an Unsicherheit konfrontiert.
Die Vergleichsmarktbetrachtungen verlangen keinen zwingenden Vortrag. Auch andere Methoden zur Ermittlung des hypothetischen Wettbewerbspreises könnten in Betracht kommen. Hierfür sieht der BGH es als ausreichend an, wenn der Kläger alle greifbaren Anhaltspunkte für die nach § 287 ZPO vorzunehmende Schadensschätzung vorträgt, zu deren Darlegung er ohne Weiteres in der Lage ist. Das müssen nicht nur die ökonometrischen Vergleichsbetrachtungen sein. Je nach den Umständen des Einzelfalls könnten dies auch sonstige Indizien sein, die unter Berücksichtigung des genannten Erfahrungssatzes geeignet sind, auf einen erheblichen Schaden des Klägers zu schließen. Insbesondere Umstände aus dem Bußgeldverfahren könnten dabei herangezogen werden. Nicht aber ist ein Kläger verpflichtet, ein ökonomisches Sachverständigengutachten einzuholen.
Darüber hinaus waren die Schlussfolgerungen des Gerichts widersprüchlich. Denn es hatte sich einerseits einer Erwägung angeschlossen, dass jedenfalls ein Verstoß gegen das Kartellverbot auch einen Schaden verursache. Andererseits hatte es unter Verweis auf die Oxera-Studie behauptet, diese hätte auch einen kleinen Teil an Fällen festgestellt, in denen kein Schaden aufgetreten sei, dasselbe gelte hier auch.
Weitere hilfreiche Aussagen in der BGH-Entscheidung
Weiterhin bekräftigte der BGH seine Rechtsprechung, dass eine Kartellbefangenheit erworbener Gegenstände auch bei einem Mietkauf vorliegen kann. Diese Vertriebsform sei ebenso auf die volle Deckung der Anschaffungs- und Finanzierungskosten durch den Erwerber gerichtet, wenn auch über eine zeitliche Aufteilung. Dies steht aber nicht der Annahme entgegen, dass beim Erwerb der LKW ein kartellrechtswidrig erhöhter Preis gezahlt wurde.
Kartellbefangen können wegen der Möglichkeit einer Schadensweiterwälzung in diesem Fall weiterhin Gebraucht- und Vorführwagen sein. Zwar bezog sich die Entscheidung der Kommission auf wettbewerbswidrige Absprachen bei Neuwagen. Es sei jedoch nicht auszuschließen, dass in diesem Fall zusätzlich ein kartellbedingter Schaden auf der erst nachgelagerten Marktstufe entstanden sei. Dies könnte aufgrund einer Schadensweiterwälzung des jeweiligen Verkäufers der Fahrzeuge entstanden sein, der selbst von der ursprünglichen Kartellabsprache betroffen war.