BGH KZR 98/20: Darlegungspflichten zu § 287 ZPO im Kartellschadensersatzprozess

Der BGH hat die­sen Som­mer zu Dar­le­gun­gen im Kar­tell­scha­dens­er­satz­pro­zess ent­schie­den. Im Leit­satz zu die­ser Ent­schei­dung heißt es, für die Dar­le­gung eines kar­tell­be­ding­ten Preis­hö­hen­scha­dens genü­ge es, wenn der Klä­ger alle greif­ba­ren Anhalts­punk­te für die nach § 287 ZPO vor­zu­neh­men­de Scha­dens­schät­zung vor­trägt, zu deren Dar­le­gung er ohne wei­te­res in der Lage ist. Nicht dage­gen müs­se der Klä­ger eine Ver­gleichs­markt­ana­ly­se vor­le­gen. Viel­mehr kön­nen sich Anhalts­punk­te auch aus sons­ti­gen Indi­zi­en je nach den Umstän­den des Ein­zel­falls ergeben.

Hintergrund

Die Kom­mis­si­on hat­te im Juli 2016 durch Beschluss fest­ge­stellt, dass meh­re­re LKW-Her­stel­ler Abspra­chen über Prei­se und Brut­to­lis­ten­preis­er­hö­hun­gen sowie über den Zeit­plan und die Wei­ter­ga­be von Kos­ten für die Ein­füh­rung von neu­en Tech­no­lo­gien vor­ge­nom­men hat­ten. Dies stell­te einen Ver­stoß gegen das Ver­bot wett­be­werbs­be­schrän­ken­der abge­stimm­ter Ver­hal­tens­wei­sen dar. Die­ser Ver­stoß dau­er­te dem­nach von Janu­ar 1997 bis Janu­ar 2011 an. Die Kom­mis­si­on ver­häng­te teil­wei­se emp­find­li­che Buß­gel­der. Ein Unter­neh­men konn­te zudem von der Kron­zeu­gen­re­ge­lung pro­fi­tie­ren und bekam kein Buß­geld auf­er­legt. Die Beklag­ten in dem Ver­fah­ren vor dem BGH waren Teil die­ser Absprachen.

Der Klä­ger hat­te in dem frag­li­chen Zeit­raum von den Beklag­ten ins­ge­samt 112 LKW erwor­ben. Er ver­lang­te nun gestützt auf den Kom­mis­si­ons­be­schluss Kar­tell­scha­dens­er­satz. Hier­zu zog er die soge­nann­te Oxera-Stu­die 2009 her­an. Die­se war noch von der EU-Kom­mis­si­on in Auf­trag gege­ben wor­den, um Kar­tell­schä­den quan­ti­fi­zier­bar zu machen. Laut die­ser Stu­die füh­ren Kar­tel­le im Medi­an zu einem kar­tell­be­ding­ten Preis­auf­schlag von 18 % des gezahl­ten Prei­ses. Auf die­se Infor­ma­tio­nen gestützt berech­ne­te der Klä­ger sei­nen indi­vi­du­el­len Preis­auf­schlag mit 15 % des jewei­li­gen Erwerbs­prei­ses und ver­lang­te die­sen zurück. Ins­ge­samt ergab sich dazu ein gefor­der­ter Scha­dens­er­satz in Höhe von mehr als 1,5 Mio. EUR. 

Ablehnung des Kartellschadensersatzes in den Instanzen

Vor dem LG Leip­zig und dem OLG Dres­den hat­te der Klä­ger hier­mit kei­nen Erfolg. Grund dafür war jedoch nicht die Fra­ge, ob ein Ver­stoß vor­liegt. Die Kom­mis­si­on hat­te den Ver­stoß gegen das Ver­bot aus Art. 101 Abs. 1 AEUV bin­den fest­ge­stellt. Das Beru­fungs­ge­richt sah die 112 erwor­be­nen LKW als kar­tell­be­fan­gen an. 

Obwohl also ein haf­tungs­be­grün­den­der Ver­stoß gegen ein kar­tell­recht­li­ches Ver­bot besteht und obwohl auch der Klä­ger hier­von betrof­fen war, hat das Beru­fungs­ge­richt die Kla­ge abge­lehnt, weil ein Scha­den nicht sub­stan­ti­iert sei. Es bestehe kein Erfah­rungs­satz, dass ein Kar­tell wie das vor­lie­gen­de typi­scher­wei­se einen Preis­er­hö­hungs­scha­den bewir­ke. Ent­spre­chend habe der Klä­ger nicht die für eine Scha­denser­mitt­lung erfor­der­li­chen Anknüp­fungs­tat­sa­chen dargelegt.

Die Entscheidung des BGH

Der BGH hat die­se Ent­schei­dung des Beru­fungs­ge­richts auf­ge­ho­ben und die Sache zur erneu­ten Ver­hand­lung und Ent­schei­dung zurück ver­wie­sen. Das Beru­fungs­ge­richt habe zu unrecht einen bezif­fer­ten Scha­den nicht für fest­stell­bar gehalten.

Voraussetzungen der fehlerfreien Schadensfeststellung nach § 287 Abs. 1 S. 1 ZPO

Maß­geb­lich für die Scha­dens­fest­stel­lung ist § 287 Abs. 1 S. 1 ZPO. Danach ent­schei­det das Gericht unter Wür­di­gung aller Umstän­de nach frei­er Über­zeu­gung, ob und in wel­cher Höhe ein Scha­den ent­stan­den ist. Dabei muss das Gericht im Wege eines Indi­zi­en­be­wei­ses fest­stel­len, ob der von einem am Kar­tell­ver­stoß betei­lig­ten Unter­neh­men ver­ein­bar­te Preis wegen des Kar­tells höher war, als er ohne das Kar­tell gewe­sen wäre. Die­se Fest­stel­lung muss das Gericht nach soge­nann­ter frei­er Über­zeu­gung tref­fen. Um die­se freie Über­zeu­gung ver­fah­rens­feh­ler­frei zu gewin­nen, muss das jewei­li­ge Tat­sa­chen­ge­richt fol­gen­de Vor­aus­set­zun­gen einhalten:

  1. Das Gericht muss sich umfas­send mit den Umstän­den des Ein­zel­falls im Wege einer Gesamt­wür­di­gung aus­ein­an­der­set­zen. Dabei muss es zum einen die Umstän­de ein­be­zie­hen, die fest­ge­stellt wur­den. Zum ande­ren muss es für Vor­trag mit Beweis­an­ge­bot prü­fen, ob die wei­te­ren Indi­zi­en — sofern sie schlüs­sig wären — es von der Wahr­heit der Tat­sa­che über­zeu­gen, die bewie­sen wer­den soll.
  2. Zuguns­ten des Abneh­mers eines an einer Kar­tell­ab­spra­che betei­lig­ten Unter­neh­mens besteht ein Erfah­rungs­satz, dass die im Rah­men des Kar­tells erziel­ten Prei­se im Schnitt über den­je­ni­gen lie­gen, die sich ohne die wett­be­werbs­be­schrän­ken­de Abspra­che gebil­det hät­ten. Die­ser Erfah­rungs­satz ist als tat­säch­li­che Ver­mu­tung anzu­wen­den. Dafür spricht die wirt­schaft­li­che Erfah­rung, dass ein Kar­tell regel­mä­ßig zu einem Mehr­erlös der Betei­lig­ten führt, weil die­se sich weni­ger oder nicht im Wett­be­werb durch­set­zen müs­sen. Müs­sen sich Unter­neh­men nicht dem Preis­wett­be­werb stel­len, so wer­den sie kei­ne Preis­sen­kungs­spiel­räu­me nut­zen. Je län­ger und nach­hal­ti­ger ein Kar­tell prak­ti­ziert wird, des­to grö­ßer ist hier­nach die Wahr­schein­lich­keit von Aus­wir­kun­gen auf das Preis­ni­veau. Der Erfah­rungs­satz wirkt ent­spre­chend gewich­ti­ger, was das Gericht zu berück­sich­ti­gen hat.
  3. Der Indi­zi­en­be­weis ist geführt, wenn das Gericht auf­grund der Gesamt­wür­di­gung von der Rich­tig­keit der zu bewei­sen­den Haupt­tat­sa­che über­zeugt ist. Miss­lun­gen ist er, wenn das Gericht noch Zwei­fel an der Wahr­schein­lich­keit eines ein­ge­tre­te­nen Scha­dens hat. Der Geg­ner muss dage­gen nicht den Beweis des Gegen­teils eines ein­ge­tre­te­nen Scha­dens überzeugen.
  4. Die Schät­zung der Höhe des Scha­dens­er­satz­an­spruchs ist nur ein­ge­schränkt durch das Revi­si­ons­ge­richt über­prüf­bar. Bean­stan­det wer­den kön­nen fol­gen­de Feh­ler des Tat­sa­chen­ge­richts:
    • Wür­di­gung des Streit­stoffs erfolgt nicht umfassend
    • Wür­di­gung des Streit­stoffs erfolgt nicht widerspruchsfrei
    • Wür­di­gung des Streit­stoffs erfolgt nicht ohne Ver­stoß gegen Denk- und Erfahrungssätze
    • Rechts­grund­sät­ze der Scha­den­be­mes­sung wer­den verkannt
    • Wesent­li­che Bemes­sungs­fak­to­ren wer­den außer Betracht gelassen
    • Der Schät­zung wer­den unrich­ti­ge Maß­stä­be zugrun­de gelegt

Festgestellte Rechtsfehler in der Sache

Der BGH erkennt in der Ent­schei­dung des Beru­fungs­ge­richts eine Ver­ken­nung von Rechts­grund­sät­zen der Scha­dens­be­mes­sung und eine wider­sprüch­li­che Wür­di­gung des Streitstoffes.

Die Umstän­de, auf deren Grund­la­ge sich die Scha­dens­hö­he bemes­sen soll, muss der Anspruch­stel­ler vor­tra­gen und gege­be­nen­falls bewei­sen. Es sei laut BGH jedoch selbst bei Lücken oder Unklar­hei­ten im Vor­trag nicht gerecht­fer­tigt, dem jeden­falls in irgend­ei­ner Höhe Geschä­dig­ten jeden Ersatz zu ver­sa­gen. Mit ande­ren Wor­ten: bei einem offen­sicht­li­chen Ver­stoß, hier bestands­kräf­tig durch eine Kar­tell­be­hör­de fest­ge­stellt, wird sich (irgend-)ein zu erset­zen­der Scha­den erge­ben. Die gericht­li­che Schät­zungs­be­fug­nis in § 287 Abs. 1 S. 1 ZPO neh­me danach in Kauf, dass das Ergeb­nis der Abschät­zung mit der Wirk­lich­keit nicht über­ein­stimmt. Da sich der Geschä­dig­te regel­mä­ßig in einer Beweis­not befin­de, müs­se das Gericht gege­be­nen­falls einen Min­dest­scha­den schät­zen, wenn sich die­ser aus den fest­ge­stell­ten Umstän­den begrün­den lässt.


Zunächst ist die Ent­schei­dung zwar nur für einen soge­nann­ten kar­tell­be­ding­ten Preis­hö­hen­scha­den ergan­gen. Sie betrifft also Fäl­le, in denen Betrof­fe­ne auf­grund einer wett­be­werbs­wid­ri­gen Abspra­che einen zu hohen Preis gezahlt hat­ten. Es gibt aber kei­nen Grund, die Erwä­gun­gen des BGH nicht auch auf ande­re Fall­kon­stel­la­tio­nen zu über­tra­gen, bei denen ein Kar­tell­scha­den dar­ge­legt wer­den muss.


Das Instanz­ge­richt habe wei­ter­hin zu hohe Anfor­de­run­gen an die Dar­le­gung der kon­kre­ten Anhalts­punk­te für die Fest­stel­lung des Scha­dens gestellt. Für einen Klä­ger sei die Bezif­fe­rung eines Scha­dens mit sehr hohem Auf­wand ver­bun­den. Dies gel­te noch ein­mal mehr bei einem Preis­hö­hen­scha­den, da sich die­ser aus einem Ver­gleich des ver­trag­lich ver­ein­bar­ten Prei­ses mit dem hypo­the­ti­schen Preis ergibt, der sich ohne den Kar­tell­ver­stoß erge­ben hät­te. Wie sich die Abspra­che kon­kret auf den Markt­preis aus­wir­ken, hän­ge von einer Viel­zahl von Fak­to­ren ab, die nicht exakt wis­sen­schaft­lich beur­teilt wer­den könn­ten. Die Ermitt­lung von Kar­tell­schä­den sei mit einem beson­ders hohen Maß an Unsi­cher­heit konfrontiert. 

Die Ver­gleichs­markt­be­trach­tun­gen ver­lan­gen kei­nen zwin­gen­den Vor­trag. Auch ande­re Metho­den zur Ermitt­lung des hypo­the­ti­schen Wett­be­werbs­prei­ses könn­ten in Betracht kom­men. Hier­für sieht der BGH es als aus­rei­chend an, wenn der Klä­ger alle greif­ba­ren Anhalts­punk­te für die nach § 287 ZPO vor­zu­neh­men­de Scha­dens­schät­zung vor­trägt, zu deren Dar­le­gung er ohne Wei­te­res in der Lage ist. Das müs­sen nicht nur die öko­no­me­tri­schen Ver­gleichs­be­trach­tun­gen sein. Je nach den Umstän­den des Ein­zel­falls könn­ten dies auch sons­ti­ge Indi­zi­en sein, die unter Berück­sich­ti­gung des genann­ten Erfah­rungs­sat­zes geeig­net sind, auf einen erheb­li­chen Scha­den des Klä­gers zu schlie­ßen. Ins­be­son­de­re Umstän­de aus dem Buß­geld­ver­fah­ren könn­ten dabei her­an­ge­zo­gen wer­den. Nicht aber ist ein Klä­ger ver­pflich­tet, ein öko­no­mi­sches Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­ten einzuholen. 

Dar­über hin­aus waren die Schluss­fol­ge­run­gen des Gerichts wider­sprüch­lich. Denn es hat­te sich einer­seits einer Erwä­gung ange­schlos­sen, dass jeden­falls ein Ver­stoß gegen das Kar­tell­ver­bot auch einen Scha­den ver­ur­sa­che. Ande­rer­seits hat­te es unter Ver­weis auf die Oxera-Stu­die behaup­tet, die­se hät­te auch einen klei­nen Teil an Fäl­len fest­ge­stellt, in denen kein Scha­den auf­ge­tre­ten sei, das­sel­be gel­te hier auch.

Weitere hilfreiche Aussagen in der BGH-Entscheidung

Wei­ter­hin bekräf­tig­te der BGH sei­ne Recht­spre­chung, dass eine Kar­tell­be­fan­gen­heit erwor­be­ner Gegen­stän­de auch bei einem Miet­kauf vor­lie­gen kann. Die­se Ver­triebs­form sei eben­so auf die vol­le Deckung der Anschaf­fungs- und Finan­zie­rungs­kos­ten durch den Erwer­ber gerich­tet, wenn auch über eine zeit­li­che Auf­tei­lung. Dies steht aber nicht der Annah­me ent­ge­gen, dass beim Erwerb der LKW ein kar­tell­rechts­wid­rig erhöh­ter Preis gezahlt wurde.

Kar­tell­be­fan­gen kön­nen wegen der Mög­lich­keit einer Scha­dens­wei­ter­wäl­zung in die­sem Fall wei­ter­hin Gebraucht- und Vor­führ­wa­gen sein. Zwar bezog sich die Ent­schei­dung der Kom­mis­si­on auf wett­be­werbs­wid­ri­ge Abspra­chen bei Neu­wa­gen. Es sei jedoch nicht aus­zu­schlie­ßen, dass in die­sem Fall zusätz­lich ein kar­tell­be­ding­ter Scha­den auf der erst nach­ge­la­ger­ten Markt­stu­fe ent­stan­den sei. Dies könn­te auf­grund einer Scha­dens­wei­ter­wäl­zung des jewei­li­gen Ver­käu­fers der Fahr­zeu­ge ent­stan­den sein, der selbst von der ursprüng­li­chen Kar­tell­ab­spra­che betrof­fen war.

Über den Autor

Porträtbild von Dr. Sebastian Louven

Dr. Sebastian Louven

Ich bin seit 2016 selbstständiger Rechtsanwalt und berate vorwiegend zum Kartellrecht und Telekommunikationsrecht. Seit 2022 bin ich Fachanwalt für internationales Wirtschaftsrecht.

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