Die Europäische Kommission hat das Unternehmen ByteDance rechtmäßig als Gatekeeper im Sinne des Digital Markets Act benannt. Das hatte das Europäische Gericht letzten Sommer entschieden (T‑1077/23). Das Unternehmen ist damit den strengen materiellen Anforderungen des DMA unterworfen.
Die Entscheidung trifft einige deutliche Hinweise zu den Vermutungsregeln des DMA. Weiterhin beschäftigt sie sich intensiv mit dem Umfang, wie betroffene Unternehmen substantiierte Argumente gegen eine Benennung als Gatekeeper im Verwaltungsverfahren mit der Kommission vorbringen können.
Der Ausgangsfall
Der DMA legt nicht nur materielle Pflichten fest. Er macht diese davon abhängig, dass ein Unternehmen vorher als sogenannter Gatekeeper designiert wird. Dabei handelt es sich um einen formellen Feststellungsakt, der durch die Europäische Kommission erfolgt. Die Voraussetzungen für eine derartige Benennung zählt Art. 3 Abs. 1 DMA auf. Zusätzlich sieht Art. 3 Abs. 2 DMA Vermutungsregeln mit spezifischen Schwellwerten vor. Hierdurch wird die Ermittlung der Gatekeepereigenschaft erheblich vereinfacht.
Weiterhin setzt Art. 3 Abs. 3 DMA Meldepflichten für Unternehmen fest. Sie müssen innerhalb einer strengen Frist Angaben zu den Schwellwerten aus Art. 3 Abs. 2 DMA mitteilen. Die Kommission hat zusätzlich die Möglichkeit, proaktiv durch eine Marktuntersuchung Unternehmen als Gatekeeper zu identifizieren. Sie kann Auskünfte verlangen und einzelne Personen befragen. Gemäß Art. 30 Abs. 3 DMA kann sie eine Geldbuße bis zu einem Höchstbetrag von 1 % des weltweiten Vorjahresumsatzes festlegen, wenn ein Unternehmen seinen Mitteilungspflichten nicht nachkommt.
ByteDance teilte der Kommission mit, dass der Dienst TikTok eine Video-Sharing-Plattform und damit ein zentraler Plattformdienst sei. Diese Einordnung ist zunächst wichtig, weil die Gatekeeper wegen spezifischer bereitgestellter Dienste als solche eingeordnet werden können.
ByteDance stellte sich auf den Standpunkt, dass es die Schwellwerte aus Art. 3 Abs. 2 Buchst. c DMA nicht erreichte. Deshalb könne es nicht als Gatekeeper designiert werden. Zudem meinte ByteDance, gemäß Art. 3 Abs. 5 DMA substantiierte Argumente gegen eine Benennung vorgebracht zu haben. Gemäß Art. 3 Abs. 2 Buchst. c DMA muss ein Unternehmen die Schwellwerte aus Art. 3 Abs. 2 Buchst. b DMA in den drei vorvergangenen Geschäftsjahren erreicht haben. Die beiden Schwellwerte aus der letztgenannten Vorschrift sind erstens 45 Mio. in der Union niedergelassene oder aufhältige monatlich aktive Endnutzer sowie zweitens 10.000 in der Union niedergelassene jährlich aktive gewerbliche Nutzer.
Die Europäische Kommission stellte schließlich fest, dass TikTok als Onlinedienst eines sozialen Netzwerks ein zentraler Plattformdienst im Sinne des Art. 2 Nr. 2 Buchst. c DMA sei sowie dass ByteDance in Bezug auf diesen Dienst die Schwellwerte des Art. 3 Abs. 2 DMA erreicht habe. Hieraus ergebe sich die Vermutung, dass die Anforderungen für die Benennung als Torwächter erfüllt sind. Die von ByteDance gegen die Benennung vorgetragenen Argumente bewertete die Kommission als nicht hinreichend substantiiert, um diese Vermutungen zu entkräften. Eine eigenständige Marktuntersuchung hat die Europäische Kommission nicht eingeleitet.
Gegen diesen Benennungsbeschluss wendete sich das Unternehmen ByteDance nun mit der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV. Zwischenzeitlich hatte ByteDance auch einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt, den das Gericht jedoch mit Beschluss vom 9.2.2024 zurückgeweisen hatte. Dieser Eilbeschluss ist nicht veröffentlicht.
Bestätigung der Benennung als Gatekeeper
Das Gericht bestätigte die Entscheidung der Kommission, ByteDance als Gatekeeper zu benennen. Im Wesentlichen beschäftigt sich die Klage mit drei Punkten:
- Verstoß gegen die Vorschriften des DMA zur Gatekeeperfeststellung
- Verletzung des rechtlichen Gehörs
- Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung
Kein Verstoß gegen den DMA bei der Gatekeeperbenennung
Das Gericht orientiert sich bei seiner Entscheidung sehr streng an den Vorgaben des DMA. Diese sehen Vermutungsregeln vor, die ByteDance nicht habe erschüttern können. Entsprechend habe die Europäische Kommission die Gatekeeper-Designation beschließen dürfen und musste keine Marktuntersuchung einleiten.
ByteDance bestreitet im Rahmen dieser Entscheidung nicht, dass die in Art. 3 Abs. 2 DMA vorgesehenen Schwellwerte überschritten worden seien. Es ging dem Unternehmen vielmehr um die Widerlegung der Vermutungsregelung, die aus diesen Schwellwerten folgt. Dahingehend hatte die Kommission die Einwände des Unternehmens im Verwaltungsverfahren als unsubstantiiert zurückgewiesen. Um diese Zurückweisung der Verteidigungsrügen im Verwaltungsverfahren ging es in der Klage.
Das Gericht stellt zunächst klar, dass der Wortlaut der Verordnung keine Unterschied zwischen qualitativen und quantitativen Einwänden kennt. Der Grundtatbestand in Art. 3 Abs. 1 DMA lasse sich nicht allein in Zahlen ausdrücken. Lediglich die Schwellwerte nach Art. 3 Abs. 2 DMA für die Vermutungsregeln sind quantitativ. Da die Vermutungen widerlegbar seien, könnte das jeweilige betroffene Unternehmen hinreichend substantiierte Argumente vorbringen, dass es nach den Umständen des Einzelfalls den Grundtatbestands trotz Überschreitens der Schwellwerte nicht erfüllt. Hierbei ist es weder auf quantitaive noch auf qualitative Erwägungen beschränkt. Die Kommission kann Einwände also nicht allein deshalb zurückweisen, weil sie sich nicht in Zahlen ausdrücken lassen. Zudem ist die Aufzählung der Elemente nicht abschließend, die als Einwände berücksichtigt werden können.
Weiterhin stritt die Klägerin um die Höhe des Beweismaßes für ihre Einwände. Die Kommission hatte diese unter anderem mit der Begründung zurückgewiesen, diese seien nicht überzeugend. Der Verordnungswortlaut spricht in Art. 3 Abs. 5 UAbs. 1 DMA von hinreichend substantiierten Argumenten. Diesen Maßstab sieht auch das Gericht in dem Kommissionsbeschluss als erfüllt an. Lediglich an einer Stelle habe sie das Wort “überzeugend” verwendet, woraus sich kein erhöhter Maßstab entnehmen lasse. Ungeachtet dessen sieht das Gericht aber auch nicht, dass die Kommission die Einwände von ByteDance nur overflächlich geprüft haben könnte.
Einen weiteren wichtigen Punkt stellen die Erwägungen dazu dar, ob TikTok gewerblichen Nutzern als wichtiges Zugangstor zu Endnutzern dient. Dieses Kriterium findet sich als tatbestandsimmantentes Merkmal in Art. 3 Abs. 1 Buchst. b) DMA. Nicht als Gatekeeper designiert würde ein Unternehmen als Bereitsteller eines zentralen Plattformdienstes, der kein derartiges Zugangstor darstellt. Entsprechend relevant können hiernach Einwände betroffener Unternehmen im Zusammenhang mit substantiierten Argumenten nach Art. 3 Abs. 5 DMA sein. Die Klägerin hatte hierzu vorgetragen, dass sie anders als bei anderen Plattformen über kein digitales Ökosystem verfüge. Dies allein reicht nach Ansicht des Gerichts aber nicht für den Nachweis aus, dass ein zentraler Plattformdienst kein wichtiges Zugangstor ist.
Auch Multihoming konnte die Klägerin hier nicht als wesentlichen Umstand vortragen. Dabei handelt es sich um ein Verhalten der Nutzer, das gegen eine wettbewerbliche Zentralisierung sprechen könnte. Werden nämlich mehrere Plattformen nebeneinander genutzt, so könnte dies für stärkere Wanderungsbewegungen sprechen.
Keine Verletzung rechtlichen Gehörs
Die Klägerin rügte weiterhin, die Kommission habe sich auf tatsächliche und rechtliche Gesichtspunkte gestützt, zu denen sie im Verwaltungsverfahren nicht habe Stellung nehmen können. Dies stelle einen Verstoß gegen Art. 41 der EU-Grundrechtecharta dar.
Art. 34 Abs. 1 DMA sieht eine besondere Verfahrensregel vor Erlass der dort genannten Beschlüsse vor. Die Kommission muss demnach Gelegenheit zur Stellungnahme zur vorläufigen Beurteilung sowie den beabsichtigten Maßnahmen gewähren. Von dieser Regel ist aber nicht erfasst, wenn die Kommission gemäß Art. 3 Abs. 5 UAbs. 2 DMA die zur Entkräftung vorgesehenen Umstände zurückweist. Auch Desginationsbeschlüsse sind nicht erfasst. Zusätzlich sieht Art. 34 Abs. 4 DMA eine allgemeine Verfahrensregel vor, dass während des gesamten Verfahrens die Verteidigungsrechte des Torwächters gewahrt werden müssen.
Das Gericht geht hier davon aus, dass laut der Verfahrensakte ByteDance mehrfach angehört wurde. Hierzu stellt das Gericht klar, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör sich nicht auf den endgültigen Standpunkt bezieht, den die Verwaltung einnehmen will.
Insofern sieht das Gericht lediglich eine mögliche Verletzung des rechtlichen Gehörs hinsichtlich eines Punktes. Demnach hätte ByteDance keine Gelegenheit gehabt, sich zu der Annahme der Kommission zu äußern, dass das Unternehmen über ein eigenes Ökosystem verfüge. Hierzu hatte die Kommission im Gerichtsverfahren dann aber erfolgreich geltend gemacht, dass diese Feststellung eines Ökosystems für ihren Beschluss nicht maßgeblich gewesen sei. Die Klägerin hätte hierzu nachweisen müssen, dass sie sich besser ohne diese Verletzung hätte verteidigen können.
Aber auch unabhängig davon geht diese Rüge ins Leere. Denn das Gericht hat den Kommissionsbeschluss auch deshalb bestätigt, weil er jedenfalls aus den anderen Gründen rechtmäßig ist. Diese Zurückweisung entspricht etwa der fehlenden Kausalität eines Verfahrensfehlers im Rechtsmittelrecht. Eine Rüge ist dann unerheblich, wenn der angegriffene Rechtsakt selbst bei ihrem Durchgreifen noch als rechtmäßig angesehen werden kann. Für die Kommission ist es im Vorgriff derartiger Rügen hilfreich die Stichhaltigkeit der sonstigen Begründung nachzuweisen. Für klagende Unternehmen muss klar sein, dass nicht jeder Verfahrensfehler erfolgversprechend ist, sondern nur ein solcher, der zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung führt.
Diese Erwägung trifft dann auch die Rüge von ByteDance, sie sei nicht zu den Feststellungen angehört worden, wonach die Intensität der TikTok-Nutzung höher sei als diejenige auf anderen Onlineplattformen sozialer Netzwerke. Zum einen hatte sich ByteDance nicht gegen die grundsätzliche Einschätzung gewehrt, ein solcher Onlinedienst eines sozialen Netzwerks zu sein. Zum anderen hatte die Kommission belegt, dass nicht hinreichend bewiesen sei, dass TikTok-Nutzer in höherem Maße Multihoming vornehmen. Sie konnte also annehmen, dass die Nutzer vielmehr besonders intensiv auf TikTok aktiv sind.
Kein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz
Der dritte Klagegrund stüzt sich auf den Grundsatz der Gleichbehandlung. ByteDance wirft der Europäischen Kommission darin vor, die vorgebrachten “qualitativen” Argumente nicht berücksichtigt zu haben, obwohl diese Art von Argumenten in anderen Beschlüssen von ihr zugelassen worden sei. Die Klägerin stützt sich also auf eine angeblich bereits bestehende andere Entscheidungspraxis. Sie rügt also einen Verstoß gegen Art. 20 und 21 EU-Grundrechtecharta.
Eine entsprechende Entscheidungspraxis könnte aber nur insofern berücksichtigt werden, wie sie sich direkt auf die zu entscheidenden Rechtsfragen stützt. Der DMA sieht aber entgegen dem Kartellrecht deutlich schärfere Vorschriften vor. Das EuG weist hierzu darauf hin, dass die Kommission die Umstände des jeweiligen Einzelfalls jeweils individuell prüfen muss. Durch vorherige Entscheidungen sei sie dabei nicht gebunden, insbesondere wenn sie lediglich die wirtschaftliche Aktivität anderer Wirtschaftsteilnehmer betreffen.
Das Gericht weist hier darauf hin, dass gemäß Art. 3 Abs. 5 DMA die Umstände, unter denen der betreffende zentrale Plattformdienst bereitgestellt wird, geprüft werden müssen. Die benannten Erwägungsgründe in den Entscheidungen der Kommission betrafen aber nicht Onlinedienste sozialer Netzwerke, sondern andere Kategorien zentraler Plattformdienste. Es handelt sich danach um unterschiedliche Sachverhalte, die nach der gängigen Praxis zum Gleichbehandlungsgrundsatz eine sachliche Grundlage für eine unterschiedliche Behandlung darstellen. Die Klägerin hatte hierzu nach der Entscheidung aber keine Gründe vorgebracht, weshalb die Entscheidungspraktiken vergleichbar sein sollten.