Kartellrechtlicher Algorithmen-TÜV

Die­sen Arti­kel hat­te ich vor weni­gen Jah­ren bereits ein­mal bei Tele­me­di­cus veröffentlich.

Immer mal wie­der gibt es eine Debat­te um Gefah­ren, die von Algo­rith­men aus­ge­hen. Als neu­ar­ti­ge tech­no­lo­gi­sche Instru­men­te schei­nen sie uns irgend­wie mensch­li­che Hand­lun­gen abzu­neh­men. Eine von vie­len For­de­run­gen ist die nach einer Regu­lie­rung von Algo­rith­men, mehr noch sogar einer „kar­tell­recht­li­chen Regu­lie­rung“. Las­sen sich der­ar­ti­ge For­de­run­gen aber durch­set­zen und wäre das Kar­tell­recht der rich­ti­ge Auf­hän­ger? Gibt es mög­li­cher­wei­se bereits recht­li­che Grund­la­gen für etwas wie einen „Algo­rith­men-TÜV”?

Sind Algorithmen ein kartellrechtliches Problem?

Algo­rith­men beherr­schen die poli­ti­sche Debat­te bereits seit län­ge­rem. Sie wer­den als stell­ver­tre­ten­der Begriff für eine Viel­zahl an Pro­ble­men her­an­ge­zo­gen, die sich (schein­bar) auch recht­lich bewäl­ti­gen las­sen müss­ten: Algo­rith­men neh­men Hand­lun­gen vor, einer­seits wie zuvor noch Men­schen, ande­rer­seits noch viel schnel­ler und unüber­schau­ba­rer. Sie wer­den auch mit „künst­li­cher Intel­li­genz” in Ver­bin­dung gebracht, einem wei­te­ren aktu­el­len phi­lo­so­phi­schen wie auch recht­li­chen The­ma. Gemein­sam ist der Arg­wohn, es wür­den zukünf­tig vir­tu­el­le Intel­li­gen­zen, Robo­ter und ande­re (quasi-)autonome Ein­hei­ten den Men­schen aus sei­ner Ver­ant­wor­tung verdrängen.

Wie kann dies über­haupt ein kar­tell­recht­li­ches Pro­blem sein? Könn­te man nicht argu­men­tie­ren, dass immer auto­no­me­res Han­deln zu immer gerin­ge­rer kar­tell­recht­li­cher Ver­ant­wort­lich­keit führt? Oder noch wei­ter: Füh­ren Algo­rith­men zu mehr Ann­ony­mi­tät und kön­nen mensch­lich gesteu­er­te Unter­neh­men allein des­halb nicht mehr haf­ten? Das Stör­ge­fühl sagt bereits das Gegen­teil: Ein markt­be­herr­schen­des Unter­neh­men kann sich sei­ner Ver­ant­wor­tung nicht dadurch ent­zie­hen, dass ein Preis­miss­brauch erst durch einen Algo­rith­mus umge­setzt wur­de. So ent­schied es bereits das Bun­des­kar­tell­amt zur algo­rith­mi­schen Preis­set­zung einer deut­schen Airline.

Für das Ver­bot abge­stimm­ter Ver­hal­tens­wei­sen gilt Ähn­li­ches: vor weni­gen Jah­ren hat der EuGH ein kar­tell­be­hörd­li­ches Buß­geld bestä­tigt, das auf­grund einer Preis­ko­or­di­nie­rung über eine Platt­form erlas­sen wur­de. Der Betrei­ber einer Ver­triebs­platt­form für Rei­sen hat­te in den Vor­ein­stel­lun­gen für sei­ne Busi­ness-Kun­den eine Beschrän­kung der Preis­ge­stal­tungs­mög­lich­kei­ten auf­ge­nom­men. Dies sah die zustän­di­ge Behör­de als kar­tell­recht­li­chen „Hard­core-Ver­stoß” – nicht nur des Platt­form-Betrei­bers, son­dern auch der Unter­neh­men, die die­se Platt­form nutz­ten und die Preis­ge­stal­tung akzep­tier­ten. Denn im Rah­men der Vor­ein­stel­lung konn­ten sich die Unter­neh­men zunächst dar­auf ver­las­sen, dass auch die ande­ren an die Platt­form ange­schlos­se­nen Unter­neh­men ihre Preis­ge­stal­tung nicht wei­ter aus­schöp­fen. Sie haf­ten unmit­tel­bar selbst als Teil­neh­mer der kar­tell­rechts­wid­ri­gen Abstim­mung über die Platt­form. Die­se Kon­stel­la­ti­on wird auch als Hub-and-Spo­ke-Kar­tell beschrie­ben: Wie bei einem Rad mit Nar­be und Spei­chen kann in der Mit­te ein Unter­neh­men durch sei­ne stern­för­mi­gen Geschäfts­be­zie­hun­gen das Ver­hal­ten der ande­ren Unter­neh­men koor­di­nie­ren. Wird der Platt­form-Betrei­ber ersetzt, lässt dies die Haf­tung der ange­schlos­se­nen Unter­neh­men nicht ent­fal­len. Statt­des­sen wird der Koor­di­na­tor ledig­lich tech­no­lo­gisch abs­tra­hiert. David Sai­ve und ich hat­ten das in einem gemein­sa­men Auf­satz für die NZKart damals zusam­men gefasst.

Kartellrecht oder Regulierung

Zusam­men­fas­send lässt sich jeden­falls sagen, dass bereits das gel­ten­de Kar­tell­recht eine Ant­wort auf den Ein­satz algo­rith­mi­scher Hilfs­mit­tel kennt. Dabei gilt hier wie auch bei sons­ti­gem Han­deln: alles, was nicht von den aus­drück­li­chen Ver­bots­vor­schrif­ten erfasst ist, ist erlaubt. Das Kar­tell­recht regu­liert dabei aller­dings nicht, son­dern setzt ledig­lich miss­bräuch­lich bzw. wett­be­werbs­wid­rig aus­ge­üb­ter Wett­be­werbs­frei­heit eng aus­zu­le­gen­de Gren­zen. Das bedeu­tet für den Ein­satz von Algo­rith­men, dass dies solan­ge kar­tell­recht­lich unbe­denk­lich ist, wie kein Ver­stoß gegen eine Ver­bots­vor­schrift vor­liegt. Aller­dings sind die Gren­zen zwi­schen erlaub­tem wett­be­werb­li­chen Ver­hal­ten und ver­bo­te­ner Wett­be­werbs­be­schrän­kung nicht immer so ein­deu­tig (nach-)vollziehbar. Noch schwie­ri­ger ist dies für Unter­neh­men, die sich zwar an das gel­ten­de Kar­tell­recht hal­ten müs­sen, ande­rer­seits aber ihre Wett­be­werbs­frei­hei­ten aus­le­ben und damit inno­va­tiv sein wol­len. Wenn tech­ni­sche Sach­ver­hal­te aber immer kom­ple­xer wer­den, kön­nen die kar­tell­recht­li­chen Ver­wick­lun­gen und eine ange­mes­se­ne Com­pli­ance damit eben­so her­aus­for­dern­der werden.

Hin­zu kommt, dass durch­aus ein Bedürf­nis nach einer ech­ten Regu­lie­rung von Algo­rith­men zu bestehen scheint. Dabei geht es um einen vor­her­ge­steck­ten engen Rah­men an gesetz­li­chen Vor­schrif­ten, inner­halb des­sen sich Algo­rith­men bewe­gen dür­fen. Dies wider­spricht zunächst dem gel­ten­den Wett­be­werbs­recht, das gera­de kei­nen engen recht­li­chen Rah­men bereit­stellt. Der Unter­schied besteht dar­in, dass wett­be­werb­li­ches Han­deln grund­sätz­lich frei ist – solan­ge es nicht ent­we­der gegen die kar­tell­recht­li­chen Ver­bots­vor­schrif­ten ver­stößt oder regu­liert ist. Ein „TÜV“ wür­de aber bedeu­ten, dass eine unter­neh­me­ri­sche Maß­nah­me erst noch geneh­migt wer­den müss­te. Eine Geneh­mi­gung für ein bestimm­tes wett­be­werb­li­ches Han­deln ist dem Kar­tell­recht jedoch fremd. Jedoch muss es nicht gleich die „har­te“ Regu­lie­rung sein, wenn sich auch ande­re Mög­lich­kei­ten fin­den, um jeden­falls wett­be­werb­li­che Miss­stän­de recht­lich zu bewältigen.

Rechtssicherheit durch behördliches Handeln?

Wie kommt das Kar­tell­recht nun in die Rol­le, einer­seits Wett­be­werb und ande­rer­seits Rechts­si­cher­heit zu ermög­li­chen, wenn es doch eigent­lich nicht regu­lie­ren soll? Eine Lösung könn­te in den Ent­schei­dun­gen der Kar­tell­be­hör­den lie­gen. Die­se haben grund­sätz­lich die Mög­lich­keit, den betei­lig­ten Unter­neh­men ein kar­tell­rechts­wid­ri­ges Ver­hal­ten zu unter­sa­gen. Eben­so kön­nen sie Unter­neh­men aber auch Maß­nah­men zur Besei­ti­gung auf­er­le­gen, die eine hohe gestal­te­ri­sche Wir­kung haben. Das bedeu­tet, dass nicht das Ver­bot im Mit­tel­punkt der Ent­schei­dung steht, son­dern die Gestal­tung selbst. Aus recht­li­cher Sicht kann dies gerecht­fer­tigt sein, wenn es mil­de­re und ange­mes­se­ne­re Maß­nah­men gibt als ein schlich­tes Ver­bot. In die Abwä­gung, ob dies der Fall ist, müs­sen die Umstän­de des Ein­zel­falls mit­ein­be­zo­gen werden.

Was aber, wenn die­se Umstän­de des Ein­zel­falls der­art kom­plex sind, dass weder ein Ver­bot noch ein­sei­ti­ge gestal­te­ri­sche Maß­nah­men ange­mes­sen wären? Ein Bei­spiel hier­für kön­nen kol­lu­si­ve wett­be­werbs­be­schrän­ken­de Abstim­mun­gen über Kon­sen­s­al­go­rith­men sein, wie sie häu­fig bei der Block­chain-Tech­no­lo­gie zum Ein­satz kom­men. In die­sen Fäl­len könn­ten ähn­lich wie bei einer Platt­form wett­be­werb­lich sen­si­ti­ve Infor­ma­tio­nen aus­ge­tauscht oder Prei­se abge­spro­chen wer­den. Durch die beson­de­ren tech­ni­schen Ver­stri­ckun­gen die­ser Tech­no­lo­gie könn­ten die­se Infor­ma­tio­nen zum einen zur Kennt­nis eines jeden ein­zel­nen Block­chain-Teil­neh­mers gelan­gen. Zum ande­ren wür­den die­se Infor­ma­tio­nen über den Kon­sen­s­al­go­rith­mus abge­si­chert. Pro­ble­ma­tisch ist dabei jedoch nicht allein die Fra­ge einer Zurech­nung von Wis­sen – es geht um eine ange­mes­se­ne Durch­set­zung des Kar­tell­rechts. Bei der Block­chain-Tech­no­lo­gie müs­sen aus tech­ni­schen Grün­den eine Viel­zahl an Per­so­nen an einer Hand­lung mit­wir­ken, damit sie über­haupt statt­fin­den kann. Das gilt auch für die Umset­zung etwa­iger behörd­li­cher Unter­sa­gungs­ver­bo­te. Die­se müss­ten sich an alle an einem Kon­sens Betei­lig­ten rich­ten, damit sich die­se dar­an hal­ten könn­ten. Infor­ma­tio­nen sind jedoch immer rela­tiv in ihrer Bedeu­tung. Für eini­ge Unter­neh­men könn­ten zum Bei­spiel Anga­ben über Ver­triebs­ge­bie­te, Prei­se oder wett­be­werb­li­che Stra­te­gien völ­lig unbe­deu­tend sein, weil sie sich in einer gänz­lich ande­ren Bran­che bewe­gen, aber den­noch das glei­che Netz­werk ver­wen­den. In mate­ri­ell-kar­tell­recht­li­cher Hin­sicht wären sie damit mög­li­cher­wei­se nicht ver­ant­wort­lich, müss­ten aber aus tech­ni­scher Hin­sicht den­noch an der Besei­ti­gung mit­wir­ken. Die Alter­na­ti­ve wäre wohl nur eine voll­stän­di­ge Unter­sa­gung des Betriebs der gesam­ten Platt­form, was in aller Regel unan­ge­mes­sen wäre. Die kar­tell­be­hörd­li­che Durch­set­zung steht hier vor einem Dilemma.

Lösun­gen könn­ten dar­in zu sehen sein, dass die Kar­tell­be­hör­den schon vor­ab ihre Ein­schät­zun­gen dazu kom­mu­ni­zie­ren, unter wel­chen Vor­aus­set­zun­gen sie in jedem Fall nicht ein­schrei­ten wür­den. Zum Bei­spiel wer­den regel­mä­ßig in Mit­tei­lun­gen der EU-Kom­mis­si­on hori­zon­ta­le oder ver­ti­ka­le Maß­nah­men dar­ge­stellt, die jeden­falls kar­tell­recht­lich unbe­denk­lich wären. In die Brei­te wir­ken­de kom­ple­xe Abstim­mungs­sach­ver­hal­te wie hier könn­ten dabei bereits jetzt zum Teil über die bis­he­ri­gen Aus­füh­run­gen zu Stan­dard- und Norm­set­zun­gen durch die Unter­neh­men im Wett­be­werb erfasst sein. Ein in der Pra­xis gebräuch­li­ches Instru­ment sind außer­dem die Grup­pen­frei­stel­lungs­ver­ord­nun­gen im Zusam­men­hang mit Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. § 2 Abs. 2 GWB. In die­sen sind für das Ver­bot wett­be­werbs­be­schrän­ken­der abge­stimm­ter Ver­hal­tens­wei­sen typi­sier­te Fäl­le beschrie­ben, bei denen eine Maß­nah­me kar­tell­recht­lich unbe­denk­lich ist. Dies ist jedoch nicht für das Markt­macht­miss­brauchs­ver­bot vor­ge­se­hen. Außer­dem setzt die­ses Vor­ge­hen erst auf einer nach­ge­la­ger­ten Stu­fe an, wenn schon eine tat­be­stand­li­che Maß­nah­me fest­steht. In mate­ri­el­ler Hin­sicht knüp­fen Frei­stel­lun­gen an Effi­zi­enz und Ver­brau­cher­wohl­fahrt an. Jedoch geht es bei der Fra­ge des behörd­li­chen Ein­schrei­tens nicht um Aus­nah­men, son­dern bereits um von vor­ne­her­ein als recht­mä­ßig beschrie­be­ne Maß­nah­men. Die­se kön­nen aber eben­so völ­lig ohne Betrach­tung von Effi­zi­enz und Ver­brau­cher­wohl­fahrt kar­tell­recht­lich unbe­denk­lich sein – näm­lich wenn bereits kei­ne abge­stimm­te Ver­hal­tens­wei­se besteht oder ein zwar markt­mäch­ti­ges Unter­neh­men sei­ne Markt­macht nicht miss­braucht. Ver­gleich­bar wäre jedoch, dass nach außen für den Rechts­be­trof­fe­nen bin­den­de Regeln geschaf­fen wür­den, auf die er sich ver­las­sen kann. Der „TÜV” wür­de also ent­we­der eher in die Rich­tung einer behörd­li­chen Selbst­bin­dung gehen, oder aber eine „Selbst­zer­ti­fi­zie­rung” der Unter­neh­men im Wett­be­werb darstellen.

Aber auch die­ses Vor­ge­hen hat einen wei­te­ren Kri­tik­punkt. Denn im Wett­be­werb müs­sen Unter­neh­men die Mög­lich­keit haben, sich grund­sätz­lich frei ver­hal­ten zu kön­nen. Wür­de eine Behör­de ihnen nun­mehr zu ver­ste­hen geben, wel­che Maß­nah­men per se zuläs­sig wären, könn­te dies eben­so nach­tei­li­ge Aus­wir­kun­gen auf den Wett­be­werb haben. Die Unter­neh­men könn­ten sich näm­lich der­art fest an die Ein­schät­zun­gen der Behör­den ver­las­sen, dass sie kein ande­res Ver­hal­ten wäh­len, auch wenn es kar­tell­recht­lich zuläs­sig wäre. Damit könn­te im schlimms­ten Fall von der­ar­ti­gen behörd­li­chen Äuße­run­gen eine Art „chil­ling effect” aus­ge­hen. Gleich­zei­tig haben die Kar­tell­be­hör­den ähn­lich wie auch die sons­ti­gen Akteu­re im Wett­be­werb nur begrenz­tes Wis­sen. Dies kann sich nicht nur in in Hin­sicht der tech­nisch kom­ple­xen Sach­ver­hal­te erge­ben, son­dern auch der damit zusam­men­hän­gen­den wett­be­werb­li­chen Wer­tun­gen. Wür­den des­halb ver­meint­lich ganz­heit­li­che Wer­tun­gen bekannt gege­ben, könn­te dies mit dem Risi­ko mas­si­ver Fehl­ein­schät­zun­gen gan­zer Bran­chen ver­bun­den sein. Zudem wür­de die jewei­li­ge Kar­tell­be­hör­de eben­so stark in Rich­tung einer Markt­auf­sicht gerückt. Wirk­lich erfolg­ver­spre­chend in prak­ti­scher Hin­sicht kann des­halb wohl nur eine tat­säch­li­che Ein­zel­fall­ein­schät­zung sein, die dann aber wie­der­um sämt­li­che rele­van­te Umstän­de berück­sich­tigt. Die Behör­den ver­fü­gen über der­ar­ti­ge Befug­nis­se bereits nach gel­ten­dem Recht im Zuge der Vorabentscheidung.

Über den Autor

Porträtbild von Dr. Sebastian Louven

Dr. Sebastian Louven

Ich bin seit 2016 selbstständiger Rechtsanwalt und berate vorwiegend zum Kartellrecht und Telekommunikationsrecht. Seit 2022 bin ich Fachanwalt für internationales Wirtschaftsrecht.

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