Der EuGH hat heute in der Auseinandersetzung zwischen Enel Italia und Google entschieden (C‑233/23). Verweigert ein derartiger Plattformbetreiber einem App-Drittanbieter die Gewährleistung der Interoperabilität für den Zugang, so kann dies einen Marktmachtmissbrauch darstellen. Die Plattform muss für die kommerzielle Nutzung der Drittanbieter-App nicht unerlässlich sein. Ist die Gewährleistung der Integrität der Sicherheit und Integrität der Plattform gefährdet, so kann dies aber eine sachliche Rechtfertigung für eine Weigerung darstellen. Erforderliche Templates muss der Marktbeherrscher entwickeln.
Hintergründe
Enel hatte im Jahr 2018 seine App JuicePass eingeführt. Mit dieser sollten Nutzer mit Elektrofahrzeugen die Möglichkeit erhalten, Ladestationen zu lokalisieren und zu buchen.
Um die Navigation aber während der Fahrt zu ermöglichen, benötigte Enel Zugang zu dem Betriebssystem auf dem jeweiligen Fahrzeug. Auf diesem Wege wäre es möglich gewesen, dass Fahrer über den Bordbildschirm direkt auf JuicePass zugreifen.
Enel ersuchte Google deshalb in der Folge um Zugang zu dem Fahrzeug-Betriebssystem in der Form, dass seine App mit diesem kompatibel gemacht würde. Dies war für andere Drittanbieter bereits über sogenannte Templates möglich, die Google bereitgestellt hatte.
Google lehnte dieses Begehren ab. Zunächst berief sich das Unternehmen darauf, es gäbe kein spezifisches Template, da bislang allein Multimedia- und Messager-Apps zugelassen seien. Im weiteren Verlauf begründete es seine Weigerung mit Sicherheitsbedenken und der Notwendigkeit einer rationalen Zuweisung der für die Erstellung eines solchen Templates erforderlichen Ressourcen.
Die italienische Wettbewerbsbehörde (AGCM) ging gegen Google vor. Sie verhängte ein Bußgeld in Höhe von 102 Mio. EUR. Gegen diese Entscheidung legte Google Rechtsmittel ein. Der italienische Staatsrat als oberstes Verwaltungsgericht setzte das Verfahren aus und legte es dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.
Zu den Entscheidungsgründen
Kein Unerlässlichkeitstest erforderlich
Nicht maßgeblich ist für den EuGH in dieser Konstellation, ob die Plattform für die kommerzielle Nutzung dieser App unerlässlich ist. Dieses Argument stammt noch aus der Dogmatik des Gerichtshofs zur sogenannten Essential-Facilities-Doktrin, insbesondere der Bronner-Entscheidung. Danach wurde es als erforderlich angesehen, dass eine Zugangsverweigerung dazu geführt habe, dass auf einem nachgelagerten Markt ein Produkt nicht vermarktet werden könnte.
Der Gerichtshof verwirft diese Anforderung für die vorliegende Konstellation. Ein Missbrauch könne bereits festgestellt werden, wenn die Plattform mit dem Ziel entwickelt wird, die Nutzung durch Drittunternehmen zu ermöglichen und wenn sie deshalb geeignet ist, die App für Verbraucher attraktiver zu machen.
Nicht gerechtfertigt sei die Weigerung durch die Wahrung der Vertragsfreiheit oder von Eigentumsrechten. Auch komme es nicht auf einen aufrechtzuerhaltenden Anreiz an, in die Entwicklung hochwertiger Produkte oder Dienstleistungen zu investieren. Hier stellt sich dann lediglich die Frage, ob dies wirklich ein Verzicht auf den Unerlässichkeitstest ist oder die Unerlässlichkeit lediglich in der Form festgestellt wurde, dass anderenfalls die Attraktivität bei denjenigen Verbrauchern ausbleibt oder sinkt, die diese Plattform nutzen. Die Fußnote 5 in der Pressemitteilung des EuGH deutet darauf hin, dass zweiteres der Fall sein könnte.
Gefährdung der Gewährleistung von Interoperabilität und Integrität der Plattform
Unter bestimmten Umständen könne Google jedoch die Interoperabilität verweigern. Dies soll hier möglich sein bei einem fehlenden Template zum Zeitpunkt des Zugangsersuchens für die Kategorie der betreffenden Apps, wenn die Gewährung der Interoperabilität die Sicherheit oder die Integrität der Plattform gefährden würde oder wenn es aus anderen technischen Gründen unmöglich wäre, diese Interoperabilität zu gewährleisten.
Ist dies nicht der Fall, so muss das Unternehmen ein solches Template innerhalb eines angemessenen Zeitraums entwickeln. Es darf dabei gegebenenfalls eine angemessene finanzielle Gegenleistung verlangen. Hierbei sind die Bedürfnisses des Drittunternehmens in Ausgleich zu bringen mit den tatsächlichen Entwicklungskosten. Das Unternehmen kann sich also nicht pauschal darauf zurückziehen, eine derartige Anpassung seines Geschäftsmodells sei teuer. Noch einmal mehr können Nachfragerunternehmen hier bereits proaktiv anbieten, sich in angemessenem Umfang an den erforderlichen Entwicklungskosten zu beteiligen.
Eignung zur Behinderung des Wettbewerbs
Offen lässt das Gericht, ob auf dem betreffenden Markt die Aufrechterhaltung oder Entwicklung des Wettbewerbs durch die Weigerung behindert wurde. Dies liege in der tatsächlichen Feststellung des vorlegenden Gerichts. Allein dass ein von einer Zugangsverweigerung betroffenes Unternehmen aber weiterhin wirtschaftlich tätig bleibt, sei kein Grund für die Ablehnung wettbewerbswidriger Auswirkungen. Diese Aussage ist sehr hilfreich für betroffene Unternehmen. Sie entkräftet das ständig wiederholte Argument, die Zugangsverweigerung könne ja nicht so schlimm gewesen sein, immerhin gäbe es das betroffene Unternehmen noch.
Vertiefende Aspekte der EuGH-Entscheidung
Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Enel Italia gegen Google wirft einige zentrale Fragen auf, die über die rein rechtliche Analyse hinausgehen und auch praktische sowie langfristige Implikationen für den Wettbewerb in der digitalen Wirtschaft haben. Diese Aspekte verdienen eine tiefere Betrachtung, um die Konsequenzen für die Praxis und die Marktstrukturen zu verstehen.
1. Verhältnis zwischen Vertragsfreiheit und Wettbewerbsrecht
Ein zentraler Punkt der Entscheidung ist die Abwägung zwischen den Interessen eines Plattformbetreibers an der Wahrung seiner Vertragsfreiheit und den Anforderungen des Wettbewerbsrechts. In der Vergangenheit galt im Rahmen der „Essential-Facilities-Doktrin“ die Vorstellung, dass einem Unternehmen mit einer marktbeherrschenden Stellung der Zugang zu seinen Infrastrukturen nur dann verweigert werden kann, wenn dieser Zugang für die Marktteilnehmer unverzichtbar ist, um ihre Dienste anbieten zu können.
Der EuGH hat in der vorliegenden Entscheidung jedoch klargestellt, dass dieser „Unerlässlichkeitstest“ in der vorliegenden Konstellation nicht erforderlich ist. Diese Abkehr von einer strengen Prüfung der „Unerlässlichkeit“ des Zugangs zur Plattform könnte weitreichende Auswirkungen auf die rechtliche Beurteilung ähnlicher Fälle haben. Plattformbetreiber, die sich bislang auf ihre Vertragsfreiheit berufen konnten, müssen sich nun in stärkerem Maße der Frage stellen, ob ihre Weigerung, Drittanbietern den Zugang zu notwendigen Schnittstellen oder Templates zu gewähren, den Wettbewerb auf dem betreffenden Markt tatsächlich behindert oder das Marktumfeld verzerrt.
Dabei bleibt jedoch die Frage offen, inwieweit dieser Eingriff in die Vertragsfreiheit tatsächlich gerechtfertigt ist. Zwar wird die Marktbeherrschung als ausreichendes Kriterium für die Annahme eines Missbrauchs gewertet, jedoch wird die Problematik einer „absoluten“ Marktbeherrschung – wie sie etwa Google unterstellt wird – komplexer. Inwieweit die Anbieter von Dritt-Apps in der Lage sind, sich ohne diesen Zugang zum Google-System im Wettbewerb zu behaupten, bleibt eine faktische Fragestellung, die das vorlegende Gericht im Einzelfall klären muss.
2. Praktische Umsetzung der Entscheidung
Ein weiteres bemerkenswertes Element der Entscheidung ist die Frage, wie Plattformbetreiber wie Google nun praktisch mit der Verpflichtung umgehen werden, „erforderliche Templates“ zu entwickeln, wenn eine Drittanbieter-App keinen Zugang zur Plattform erhält. Der EuGH stellt klar, dass der Betreiber dazu verpflichtet ist, innerhalb eines „angemessenen Zeitraums“ diese Templates zu entwickeln, wenn es keine technischen oder sicherheitsrelevanten Gründe für eine Weigerung gibt.
Diese Vorgabe könnte für Plattformbetreiber erhebliche praktische Herausforderungen mit sich bringen. Die Entwicklung von Templates, die die Interoperabilität zwischen verschiedenen Systemen ermöglichen, erfordert sowohl technische als auch organisatorische Ressourcen. Die Frage, wie „angemessen“ ein Zeitraum für die Entwicklung dieser Templates ist, könnte zudem eine Quelle von Streitigkeiten werden. Hier stellt sich auch die Frage, wie eine Plattform ein solches Entwicklungstempo sinnvoll steuern kann, ohne dabei die eigene Geschäftsstrategie zu gefährden.
Zudem wird von den betroffenen Unternehmen erwartet, dass sie nicht nur Templates zur Verfügung stellen, sondern auch bereit sind, ihre Nutzung in einem gewissen Maße zu finanzieren. Das bedeutet, dass Plattformbetreiber unter Umständen auch wirtschaftliche Argumente für die Ablehnung eines Zugangs formulieren müssen, die in direkter Weise mit den Entwicklungskosten in Verbindung stehen. Dieses Szenario stellt Unternehmen vor die Herausforderung, den Entwicklungsaufwand für die Erstellung dieser Templates transparent und nachvollziehbar zu kalkulieren.
3. Langfristige Auswirkungen auf den Wettbewerb
Die Entscheidung könnte weitreichende langfristige Auswirkungen auf den Wettbewerb in der digitalen Wirtschaft haben. Einerseits könnte sie Unternehmen in die Lage versetzen, sich gegen die marktbeherrschende Praxis von Plattformbetreibern wie Google zur Wehr zu setzen und Zugang zu notwendigen Schnittstellen zu erzwingen. Andererseits könnte sie auch dazu führen, dass sich die Marktmacht der Plattformen weiter festigt.
Plattformbetreiber könnten in Reaktion auf diese Entscheidung ihre Strategien zur Kontrolle der Interoperabilität weiter optimieren, um zu verhindern, dass Wettbewerbsverzerrungen auftreten. Dies könnte die Entwicklung von „geschlossenen Systemen“ begünstigen, bei denen es für Drittanbieter immer schwieriger wird, auf der Plattform präsent zu sein, ohne den Zugriff auf zentrale Systemressourcen gewähren zu müssen. Inwieweit dies tatsächlich geschieht und ob es langfristig zu einer Marktverzerrung führt, bleibt abzuwarten. Insbesondere kann die heutige EuGH-Entscheidung als ein Hebel zur Öffnung der Plattformen genutzt werden.
Gleichzeitig ist es denkbar, dass die Entscheidung des EuGH auch als Signal für eine weitere Aufweichung der bisherigen Regelungen des digitalen Marktes verstanden werden kann. Die zivilrechtlichen Ansprüche von Unternehmen, die durch einen Missbrauch der Marktmacht eines Plattformbetreibers geschädigt wurden, könnten in Zukunft erheblich gestärkt werden. Die Anforderung, dass Plattformbetreiber Templates entwickeln müssen, könnte als eine Art „Recht auf Zugang“ zur Plattform ausgelegt werden. In der Konsequenz würde dies die Verhandlungsposition von Drittanbietern in der digitalen Wirtschaft stärken und möglicherweise zu einer gerechteren Verteilung der Ressourcen führen.
4. Die Rolle des Europäischen Wettbewerbsrechts in der digitalen Transformation
Ein letzter vertiefender Aspekt betrifft die langfristige Rolle des Wettbewerbsrechts im Zuge der digitalen Transformation. In einer zunehmend vernetzten Welt wird es für den EuGH und andere Wettbewerbsbehörden immer schwieriger, traditionelle Wettbewerbsansätze auf die neuen Herausforderungen der digitalen Ökonomie anzuwenden. Die Frage, wie weit die Regulierungsbehörden gehen können, um die Marktmacht von Plattformen zu zügeln, ohne dabei den Innovationsgeist der Unternehmen zu gefährden, wird zunehmend relevanter.
Ein zentrales Anliegen der Wettbewerbsbehörden dürfte darin bestehen, die Entwicklung von offenen Märkten zu fördern und zu verhindern, dass Plattformbetreiber ihre Marktmacht auf eine Weise ausnutzen, die die Auswahlmöglichkeiten der Verbraucher einschränkt oder Innovationen hemmt. Dies stellt eine Herausforderung dar, da das Wettbewerbsrecht in der Vergangenheit vielfach auf Märkte und Produkte angewendet wurde, die sich weitgehend von den heutigen digitalen Plattformen unterscheiden. Die Entscheidung in der Rechtssache Enel Italia gegen Google kann als ein erster Schritt in eine neue Ära des Wettbewerbsrechts angesehen werden, in der der Zugang zu digitalen Infrastrukturen eine noch zentralere Rolle spielen wird.
Gerade diese letzten Erwägungen zeigen die Bedeutung dieser Entscheidung. Marktmächtige Plattformbetreiber werden umfassend zu Mitwirkungshandlungen gezwungen, um den Marktmachtmissbrauch zu vermeiden. Dabei ist vor allem klar: ein bloßes “heute nicht” reicht nicht aus. Die Plattformunternehmen müssen vielmehr sachlich rechtfertigen, warum sie den Zugang verweigern. Weitgehend ist dabei ihre Obliegenheit, eigene Templates zu erweitern.
Weiterführende Unterstützung für Ihr Unternehmen
Die Entscheidung des EuGH in der Auseinandersetzung Enel Italia gegen Google (C‑233/23) stellt einen wichtigen Meilenstein im Wettbewerbsrecht dar. Sie zeigt auf, wie Plattformbetreiber ihre Marktposition nicht dazu nutzen dürfen, den Wettbewerb durch Zugangsverweigerung zu behindern. Wenn Ihr Unternehmen mit ähnlichen Herausforderungen in Bezug auf Marktmacht und Interoperabilität konfrontiert ist, ist es entscheidend, frühzeitig die richtigen rechtlichen Schritte zu gehen. Unsere Kanzlei verfügt über umfangreiche Erfahrung im Wettbewerbsrecht und begleitet Sie gezielt durch komplexe rechtliche Fragestellungen. Kontaktieren Sie uns, um zu besprechen, wie wir Ihre Interessen nachhaltig und kompetent vertreten können.