Das Landgericht Hannover hatte im Sommer 2021 Amazon aufgegeben, ein Verkäufer-Konto zu entsperren. Ich hatte darüber berichtet und dabei bereits einen ersten Blick auf die – sehr kurz geratenen – Entscheidungsgründe geworfen. Der Beschluss ist mittlerweile öffentlich verfügbar.
Die Entscheidung ist insgesamt ein Durchläufer. Das Gericht bestätigt den geltend gemachten Anspruch auf Reaktivierung des Amazon-Verkäuferkontos. Als Anspruchsgrundlage sieht es „§§ 33 Abs. 1 Alternative 2, 19 Abs. 2 Nr. 1 GWB, §§ 3, 3a, 12 Abs. 2 UWG in Verbindung mit dem zwischen den Parteien geschlossenen Vertriebsvertrag“.
Gerade die Formulierung am Ende der Anspruchsgrundlage lässt aber aufhorchen. Denn wenn es um den Vertriebsvertrag und seine Auslegung gehen soll, könnte doch wieder die internationale Zuständigkeit des deutschen Gerichts fraglich sein. So hatte der EuGH letztes Jahr noch klargestellt, dass bei kartellrechtlichen Ansprüchen der deliktische Anknüpfungspunkt greift, weil es gerade nicht auf die Auslegung eines Vertrages ankommt, sondern allein die Anwendung der deliktsrechtlichen Grenzen der Privatautonomie eines marktbeherrschenden Unternehmens.
Brogsitter-Defence-Defence
Ich hatte dazu bislang geschrieben, dass damit auch die Möglichkeit zum kartellrechtlichen Rechtsschutz gegenüber digitalen Plattformen gestärkt würde. Vor kurzem noch hatte ich dargestellt, wie der sogenannten Brogsitter-Defence begegnet werden kann. Denn Gerichte waren bislang sehr geneigt, ihre internationale Zuständigkeit damit abzulehnen, dass es bei derartigen Klagen gewerblicher Kunden gegenüber Plattformen auch auf die Auslegung des Plattform-Vertrages ankomme. Da die Betreiber einiger Plattformen aber im Ausland sitzen, ergebe sich auch die Erfüllung der vertraglichen Pflichten im jeweils anderen Land. Dies ließ einen Einwand entstehen, auf dessen Grundlage die internationale Zuständigkeit abgelehnt werden könnte.
Erfüllungsort in Deutschland bei Amazons Vermittlungsleistungen
Dies wiederum sieht das LG Hannover pragmatisch anders. Es knüpft zwar an die Vorschrift in Art. 7 Nr. 1 Brüssel-Ia-VO an. Diese regelt die vertragliche Anknüpfung. Das ist für das Gericht aber kein Problem, wie der folgende Ausschnitt verdeutlicht:
“Die Frage, ob die Antragstellerin weiterhin vertraglich berechtigt ist, Waren über die Verkaufsplattform der Antragsgegnerin zu vertreiben, lässt sich nicht losgelöst von den vertraglichen Regelungen des Vertriebsvertrages beurteilen. Da die Antragstellerin vom Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aus den Vertrag mit der Antragsgegnerin mit Sitz in … geschlossen hat und diese – nicht nur – Dienstleistungen in … , sondern vor allem Logistik und Warenversendung in der Bundesrepublik beinhaltet, ist Erfüllungsort im Sinne der Verordnung auch die Bundesrepublik Deutschland.”
LG Hannover, 22.07.2021 — 25 O 221/21
Mit anderen Worten: Eine oben dargestellte Differenzierung ist hinfällig, wenn jedenfalls die maßgeblichen vertraglichen Leistungen in Deutschland erbracht werden. Dies ist bei digitalen Plattformen wie Amazon gerade deshalb der Fall, weil sie auf dem deutschen Markt vermitteln und weitere Dienstleistungen erbringen. Sollte sich diese Praxis durchsetzen, würde das erheblich mehr an Rechtssicherheit bedeuten.
Dass das LG Hannover dies leider doch wieder nicht ganz so pragmatisch sieht, geht aus dem zitierten Absatz hervor. Danach sollen die logistik- und versandbezogenen Leistungen in Deutschland erbracht werden, die Vermittlungsdienstleistungen jedoch nicht. Die Annahme der internationalen Zuständigkeit ist also wohl auch den Umständen des Einzelfalls geschuldet. Das bedeutet anders herum, dass Verkäufer in Entsperrfällen weiterhin versuchen sollten die Brogsitter-Defence zu entkräften.