Kritische Infrastrukturen und Systemrelevanz

Aktu­ell häu­fen sich Fra­gen, unter wel­chen Umstän­den Unter­neh­men als sys­tem­re­le­vant ein­ge­stuft wer­den kön­nen. Dies hängt mit dem Bedürf­nis zusam­men, in Zei­ten der Coro­na-Kri­se von Pri­vi­le­gi­en pro­fi­tie­ren zu kön­nen. Dabei geht es zunächst um die grund­sätz­li­che Mög­lich­keit, wei­ter pro­du­zie­ren zu kön­nen und den Betrieb nicht ein­stel­len zu müs­sen. Aber auch mit­tel­bar spielt die­se Fra­ge eine Rol­le, etwa bei der Kin­der­be­treu­ung, wenn Eltern in sys­tem­re­le­van­ten Beru­fen tätig sind. Für die­se soll trotz all­ge­mei­ner Schlie­ßung von Schu­len und Kin­der­be­treu­ungs­ein­rich­tun­gen eine soge­nann­te Not­be­treu­ung auf­recht­erhal­ten wer­den, damit die Eltern ihrer Tätig­keit nach­ge­hen kön­nen. Ich hat­te bereits letz­te Woche einen Bei­trag dazu geschrie­ben, dass Anwäl­te wohl all­ge­mein nicht zu den sys­tem­re­le­van­ten Beru­fen zäh­len – auch wenn ihre Tätig­keit für das Funk­tio­nie­ren des Rechts­staats wich­tig ist.

Eine Idee, mit der Unter­neh­men ihre Sys­tem­re­le­vanz zu begrün­den ver­su­chen, ist dabei der Ver­weis auf die soge­nann­te Kri­tis­VO (in lang Ver­ord­nung zur Bestim­mung Kri­ti­scher Infra­struk­tu­ren nach dem BSI-Gesetz, auch BSI-Kri­tis­ver­ord­nung oder BSI-Kri­tisV). Die­se und das ihr zugrun­de lie­gen­de BSIG sind immer mal wie­der Gegen­stand mei­ner Bera­tung, etwa wenn es um die sicher­heits­recht­li­chen Anfor­de­run­gen von spe­zi­fi­schen Platt­for­men geht. Zen­tra­ler Begriff ist hier die kri­ti­sche Infra­struk­tur. In ande­ren Rechts­sys­te­men wird die­ser sehr weit aus­ge­legt, wes­halb sich auch die stei­gen­de Anzahl der Anfra­gen erklä­ren lässt.

Doch ist die­ses Argu­ment über­haupt hilf­reich für die Unter­neh­men? Zunächst ist der sach­li­che Anwen­dungs­be­reich der Kri­tis­VO sehr eng gezo­gen. Ganz grob lässt sich sagen, dass es auf spe­zi­fi­sche Tätig­kei­ten ankommt, die für eine gewich­ti­ge Grup­pe an Men­schen bedeut­sam ist und zu deren Wohl­fahrts­für­sor­ge bei­trägt. Bereits mas­se­mä­ßig fal­len hier­un­ter zahl­rei­che Betrie­be nicht, die gleich­wohl als sys­tem­re­le­vant ange­se­hen wer­den kön­nen: eine Kli­nik mag nur einen gerin­gen Ein­zugs­be­reich haben und für weni­ge Tau­send Men­schen tätig wer­den; sie ist in der Pan­de­mie den­noch ver­ant­wort­lich für deren Gesund­heit. Was all­ge­mein kri­ti­sche Infra­struk­tu­ren sind, defi­niert § 2 Abs. 10 BSIG:

(10) Kri­ti­sche Infra­struk­tu­ren im Sin­ne die­ses Geset­zes sind Ein­rich­tun­gen, Anla­gen oder Tei­le davon, die

1. den Sek­to­ren Ener­gie, Infor­ma­ti­ons­tech­nik und Tele­kom­mu­ni­ka­ti­on, Trans­port und Ver­kehr, Gesund­heit, Was­ser, Ernäh­rung sowie Finanz- und Ver­si­che­rungs­we­sen ange­hö­ren und

2. von hoher Bedeu­tung für das Funk­tio­nie­ren des Gemein­we­sens sind, weil durch ihren Aus­fall oder ihre Beein­träch­ti­gung erheb­li­che Ver­sor­gungs­eng­päs­se oder Gefähr­dun­gen für die öffent­li­che Sicher­heit ein­tre­ten würden.

Die Kri­ti­schen Infra­struk­tu­ren im Sin­ne die­ses Geset­zes wer­den durch die Rechts­ver­ord­nung nach § 10 Absatz 1 näher bestimmt.

Hier­zu lie­ße sich argu­men­tie­ren, dass auch unab­hän­gig von der Kri­tis­VO für einen Betrieb im kon­kre­ten Ein­zel­fall dar­ge­legt wer­den könn­te, die­ser ent­spre­che den Vor­aus­set­zun­gen des § 2 Abs. 10 BSIG und sei des­halb kri­ti­sche Infra­struk­tur. Hier kommt nun aber das nächs­te Argu­ment: die Ein­ord­nung als kri­ti­sche Infra­struk­tur wird einem Unter­neh­men des­halb in die­ser Lage nicht hel­fen, weil die Rechts­fol­ge kei­ne Pri­vi­le­gi­en oder sons­ti­ge Vor­tei­le umfasst, son­dern viel­mehr Pflich­ten. Die­se Pflich­ten sind nicht sol­che in der Kri­se, son­dern viel­mehr die­nen sie über­wie­gend der Ver­mei­dung von Kri­sen. Zum Bei­spiel muss der Betrei­ber gemäß § 8a BSIG orga­ni­sa­to­ri­sche und tech­ni­sche Vor­keh­run­gen zur Ver­mei­dung von Stö­run­gen der Ver­füg­bar­keit, Inte­gri­tät, Authen­ti­zi­tät und Ver­trau­lich­keit sei­ner infor­ma­ti­ons­tech­ni­schen Sys­te­me, Kom­po­nen­ten oder Pro­zes­se treffen. 

Kurz und hef­tig: es wäre für ein tat­säch­lich erfass­tes sys­tem­re­le­van­tes Unter­neh­men sehr schlecht, wenn es sich erst jetzt mit der Kri­tis­VO und sei­nen Pflich­ten aus dem BSIG aus­ein­an­der­set­zen würde.

Auch im wei­te­ren Schutz­be­reich des BSIG hilft die­ser Gedan­ke nicht wei­ter. Denn für die Betrei­ber kri­ti­scher Infra­struk­tu­ren gilt kein umfas­sen­der recht­li­cher Schutz ihres gesam­ten Betrie­bes auf der Grund­la­ge die­ses Geset­zes. Viel­mehr müs­sen sie Schutz­maß­nah­men ihrer infor­ma­ti­ons­tech­ni­schen Sys­te­me sicher­stel­len und auf­recht­erhal­ten. Es kommt also nicht auf den Schutz eines kon­kre­ten Gesamt­be­triebs an, son­dern auf die Ver­mei­dung von Aus­fäl­len sei­nes infor­ma­ti­ons­tech­ni­schen Sys­tems. Zu die­sem Zweck könn­ten sogar durch das BSI Maß­nah­men nach § 5a BSIG ergrif­fen wer­den, die sich eben­so­we­nig auf den Gesamt­be­trieb erstre­cken dürfen.

tl;dr: Kri­ti­sche Infra­struk­tur ist wich­tig, aber nicht gleich sys­tem­re­le­vant. Eine Ein­ord­nung nach der Kri­tis­VO führt zu all­ge­mei­nen Pflich­ten, kei­nen Vor­tei­len in der aktu­el­len Krise.

Über den Autor

Porträtbild von Dr. Sebastian Louven

Dr. Sebastian Louven

Ich bin seit 2016 selbstständiger Rechtsanwalt und berate vorwiegend zum Kartellrecht und Telekommunikationsrecht. Seit 2022 bin ich Fachanwalt für internationales Wirtschaftsrecht.

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