Im Referentenentwurf zur 10. GWB-Novelle ist folgende Vorschrift vorgesehen, die ich zur besseren Diskussion einmal hier in Gänze darstelle:
§ 19a
Missbräuchliches Verhalten von Unternehmen mit überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb(1) Das Bundeskartellamt kann durch Verfügung feststellen, dass einem Unternehmen, das in erheblichem Umfang auf Märkten im Sinne des § 18 Absatz 3a tätig ist, eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb zukommt. Bei der Feststellung der überragenden marktübergreifenden Bedeutung eines Unternehmens für den Wettbewerb sind insbesondere zu berücksichtigen:
- seine marktbeherrschende Stellung auf einem oder mehreren Märkten,
- seine Finanzkraft oder sein Zugang zu sonstigen Ressourcen,
- seine vertikale Integration und seine Tätigkeit auf in sonstiger Weise miteinander verbundenen Märkten,
- sein Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten,
- die Bedeutung seiner Tätigkeit für den Zugang Dritter zu Beschaffungs- und Absatzmärkten sowie sein damit verbundener Einfluss auf die Geschäftstätigkeit Dritter.
(2) Das Bundeskartellamt kann im Falle einer Feststellung nach Absatz 1 dem Unternehmen untersagen,
- beim Vermitteln des Zugangs zu Beschaffungs- und Absatzmärkten die Angebote von Wettbewerbern anders zu behandeln als eigene Angebote;
- Wettbewerber auf einem Markt, auf dem das betreffende Unternehmen seine Stellung auch ohne marktbeherrschend zu sein schnell ausbauen kann, unmittelbar oder mittelbar zu behindern, sofern die Behinderung geeignet wäre, den Wettbewerbsprozess erheblich zu beeinträchtigen;
- durch die Nutzung der auf einem beherrschten Markt von der Marktgegenseite gesammelten wettbewerbsrelevanten Daten, auch in Kombination mit weiteren wettbewerbsrelevanten Daten aus Quellen außerhalb des beherrschten Marktes, auf einem anderen Markt Marktzutrittsschranken zu errichten oder zu erhöhen oder andere Unternehmen in sonstiger Weise zu behindern oder Geschäftsbedingungen zu fordern, die eine solche Nutzung zulassen;
- die Interoperabilität von Produkten oder Leistungen oder die Portabilität von Daten zu erschweren und damit den Wettbewerb zu behindern;
- andere Unternehmen unzureichend über den Umfang, die Qualität oder den Erfolg der erbrachten oder beauftragten Leistung zu informieren oder ihnen in anderer Weise eine Beurteilung des Wertes dieser Leistung zu erschweren.
Dies gilt nicht, soweit die jeweilige Verhaltensweise sachlich gerechtfertigt ist. Die Darlegungs- und Beweislast obliegt insoweit dem betreffenden Unternehmen. § 32 Absatz 2 und 3, § 32a und § 32b gelten entsprechend. Die Verfügung nach Absatz 2 kann mit der Feststellung nach Absatz 1 verbunden werden.
(3) §§ 19 und 20 bleiben unberührt.
Ein paar kurze Gedanken hier nur zusammengefasst, weil ich mich an anderer Stelle bereits ausführlich kritisch zu dieser Vorschrift geäußert habe: Es handelt sich um ein zweistufiges behördliches Verfahren: 1. Stufe = Feststellung der überragenden marktübergreifenden Bedeutung für den Wettbewerb durch Bundeskartellamt; 2. Stufe = Befugnis zur Auferlegung bestimmter Untersagungsverfügungen. Damit handelt es sich nicht etwa um ergänzende Verbotsregeln, sondern eine Art kartellrechtliche Ex-ante-Regulierung. Bereits systematisch passt die Vorschrift deshalb nicht an diese Stelle hinter das Marktmachtmissbrauchsverbot in § 19 GWB. Aufgrund seiner Ausgestaltung als Behördenverfahren ist ein Titel zudem irreführend, der auf unmittelbar einzuhaltende Verbote hindeutet. Aber das ist nur Kosmetik. Zahlreiche weitere Punkte sind dagegen fragwürdig an dieser Vorschrift:
- Die eher dünne empirische Grundlage für ein derartiges Regulierungsinstrument;
- Der Verweis in § 19 Abs. 1 S. 1 auf § 18 Abs. 3a, der keine eigenständige Marktdefinition erhält, sondern deklaratorisch Marktmachtkriterien für besondere Marktkonstellationen aufnimmt;
- Zusätzliche unbestimmte Rechtsbegriffe wie zum Beispiel „erheblicher Umfang“, „überragende marktübergreifende Bedeutung“ oder „wettbewerbsrelevante Daten“;
- Die Möglichkeit zur Feststellung der überragenden marktübergreifenden Bedeutung für den Wettbewerb außerhalb der rechtlichen Kriterien zu Marktabgrenzung und Marktmacht;
- Die Feststellung einer Regulierungsbedürftigkeit „auf Vorrat“;
- Die fehlenden Regelungen über Rücknahme und Widerruf der getroffenen Maßnahmen;
- Die fehlenden Regelungen über Rechtsschutz des betroffenen Unternehmens;
- Die fehlenden Regelungen über den Wegfall der Regulierungsbedürftigkeit;
- Die Umkehr des Regel-/Ausnahmeverhältnisses im Kartellrecht und die Auferlegung der Darlegungs- und Beweislast an das regulierte Unternehmen;
- Das Verhältnis der in Abs. 2 möglichen Einzelmaßnahmen zu § 19 GWB;
- Der Vorrang einer Eingriffsregulierung vor anderen, milderen Maßnahmen, etwa wettbewerbsfördernde Anreizregulierung, Klarstellung zu Verbotsvorschriften oder gestaltenden Rückausnahmeregelungen zum Marktmachtmissbrauchsverbot;
- Fehlende Klarstellungen zum Verhältnis zum Private Enforcement und ihr Verhältnis zu § 33 GWB;
- Ihr Verhältnis zu den sonstigen Befugnissen des BKartA;
- Ungenaue Aussagen über Drittschutz und Vertrauensschutz der Maßnahmen nach Abs. 2;
- Ihr Verhältnis zum Kartellschadensersatzrecht.
Die Vorschrift ist ein Konjunkturpaket für Anwälte, gerade weil sie so unausgegoren unklar und schwer anwendbar ist. Sie wird keinesfalls die ersehnte Lösung gegenüber den digitalen Plattformen sein. Denn die Kritikpunkte lassen sich stets auch für rechtliche Einwände in einem behördlichen Verfahren, spätestens in der gerichtlichen Kontrolle verwerten. Und: Nirgendwo in dieser Vorschrift steht, dass sie sich nur gegen digitale Plattformen richten müsste. Auch andere Unternehmen werden eine überragende Bedeutung in mehrseitigen Märkten Wirtschaftskonstellationen innehaben können, etwa konventionelle Auto-Hersteller. Hier werden sich gegebenenfalls Fragen an das Bundeskartellamt über die Ausübung seines Aufgreifermessens stellen.