Das Landgericht Hannover hatte vor einiger Zeit per einstweiliger Verfügung Amazon die Entsperrung eines Verkäufer-Kontos auf der Plattform aufgegeben. Gegen diese Entscheidung hatte Amazon im Anschluss Verfassungsbeschwerde eingelegt; und zwar wegen der Verletzung rechtlichen Gehörs. Das Gericht hatte die Entscheidung nämlich ohne vorherige Anhörung gegenüber Amazon erlassen. Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde allerdings nicht zur Entscheidung angenommen.
Nun steht es verfassungsrechtlich jedem Betroffenen zu, sich auf die Verletzung seiner Grundrechte zu berufen. Und tatsächlich sind im Eilrechtsschutz die Anforderungen sehr hoch, wenn es darum geht, die Verteidigungsrechte auszuhebeln. Unter anderem muss das Unternehmen erst abgemahnt werden. Der betroffene Händler wurde allerdings von einem sehr erfahrenen und kompetenten Kollegen vertreten, der diese Anforderung sehr sicher eingehalten haben wird. Ebenso steht es einem Unternehmen zu, allein aus strategischen Gründen eine Entscheidung nicht rechtskräftig werden zu lassen.
Prozessrechtlich bedeutsam für eine Entscheidung ohne Anhörung sind allerdings die Umstände des Einzelfalls. Nur in besonderen Ausnahmefällen soll sich ein Gericht über die Möglichkeit zur Verteidigung hinweg setzen dürfen, so jedenfalls der Grundsatz, wie er auch schon vom BVerfG aufgestellt wurde. Liegt ein solcher Ausnahmefall hier nicht vor?
Die Sperre von Verkäufer-Konten durch Amazon ohne sachliche Rechtfertigung ist marktmachtmissbräuchlich und damit kartellrechtswidrig. Das betrifft bereits den Fall, dass eine sachliche Rechtfertigung fehlt, also bei Formalia. Dies ergibt sich zum einen aus der vereinzelt entsprechend angewandten P2B-VO; aber auch nach den allgemeinen Regeln des Behinderungsmissbrauchs ist eine nicht konkret geprüfte und begründete Sperre rechtswidrig. In diesen Fällen verletzt Amazon die Anhörung der betroffenen Unternehmen. Dass derartige Sperren für Unternehmen mit ausschließlicher Ausrichtung auf den Vertrieb über Amazon existenzgefährdend sein können, braucht wenig Fantasie. Ich halte es bei Fehlen einer Sperrbegründung und Existenzgefährdung deshalb für nachvollziehbar, auf die erneute gerichtliche Anhörung Amazons zu verzichten.
Die Verfassungsbeschwerde Amazons könnte auch im Zusammenhang mit einem wenig älteren Verfahren des LG München I gelesen werden, in dem eine erste Verfügung auch ohne Anhörung erlassen wurde. Damals hatte das BVerfG eine einstweilige Anordnung nicht erlassen, da Amazon keine verfassungsrechtlich nicht tragbaren Nachteile entstünden.
Abschließend noch etwas zur Marktmacht: In einigen Beiträgen klingt die Einschätzung durch, bislang sei die Marktmachtstellung Amazons nie behördlich oder gerichtlich festgestellt worden und konkret dies sei in irgendeiner Weise notwendig. Es ist aber anders: in einem gerichtlichen Verfahren muss die Marktmachtstellung des jeweiligen Unternehmens konkret dargelegt und bewiesen (respektive glaubhaft) gemacht werden. Eine vorhergehende Entscheidung durch irgendwen anders ist da argumentativ hilfreich, aber nicht zwingend. Dies ergibt sich aus dem zivilprozessrechtlichen Beibringungsgrundsatz. Und für die Marktmacht Amazons auf dem Markt für Vermittlungsdienstleistungen für den Online-Warenvertrieb spricht einiges, mindestens schon der mittlerweile bekannte Gesamtanteil von über 53 % am deutschen eCommerce-Umsatz. Aber auch ohne Marktmacht gilt das Missbrauchsverbot, da die Verkäufer gemäß § 20 Abs. 1 GWB von den Vermittlungsleistungen durch Amazon abhängig sind. Das gilt sowohl nach alter Gesetzeslage bei plattformbedingter Abhängigkeit als auch seit der vor einem Jahr in Kraft getretenen 10. GWB-Novelle aufgrund Amazons Intermediationsmacht nach § 20 Abs. 1 S. 2 GWB.