Der Sachverhalt einer aktuellen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschl. v. 16.3.2021 – 1 BvR 375/21) ist schnell erzählt: Ein Unternehmen unterhält bei Amazon ein Geschäftskonto. Amazon konfrontierte das Unternehmen mit dem nicht näher konkretisierten Vorwurf, es habe Rezensionen manipuliert. Anschließend wurde das Geschäftskonto gesperrt und das bisherige Guthaben eingefroren. Das Unternehmen wehrte sich dagegen mit mehreren vorgerichtlichen Schreiben. In diesen wies es auf die fehlende Tatsachengrundlage und die Rechtslage hin und setzte eine Frist zur Widerherstellung des Accounts. Als das nicht passierte, beantragte das Unternehmen beim Landgericht München I den Erlass einer einstweiligen Verfügung. Diese wurde vom Gericht ohne weitere Anhörung Amazons im Januar erlassen (LG München I, Beschl. v. 14.1.2021 – 37 O 32/21). Dagegen wendet sich nun Amazon mit der Begründung, die fehlende Anhörung verstoße gegen die prozessuale Waffengleichheit. Im Rahmen einer erhobenen Verfassungsbeschwerde beantragte Amazon den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Einstweilige Anordnung des BVerfG
Wichtig ist hierbei zu wissen, dass eine einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts keine Aussage über Erfolg oder Misserfolg der eigentlichen Verfassungsbeschwerde aussagt. Es geht hierbei allein um eine Folgenabwägung. Dafür müssen allerdings auch die zu erwartenden Nachteile vorgetragen werden, die eintreten können, wenn die einstweilige Anordnung nicht erlassen wird und stattdessen der Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens abgewartet wird.
Diese Voraussetzung sieht das BVerfG jedoch bereits nicht als erfüllt an. Denn selbst wenn Amazon durch den Beschluss des LG München I belastet ist, entstehe kein unabwendbarer Schaden. Zum einen weist das BVerfG auf die Schadensersatzpflicht aus § 945 ZPO hin, die im einstweiligen Rechtsschutz immer beachtet werden muss.
Zum anderen ergebe sich dies auch nicht aus einer präjudiziellen Wirkung auf andere Verfahren. Amazon befürchtet nämlich, zur Deaktivierung eines Verkäuferkontos nur dann berechtigt zu sein, wenn die gerügten Kundenbewertungen zuvor konkret benannt und dem jeweiligen Verkäufer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde. Das ist doch etwas weit gegriffen. Tatsächlich ist eine derartige Sperre durch Amazon nur noch bei Bestehen einer sachlichen Rechtfertigung möglich. Das erkläre ich unten noch einmal genauer. Bloße Verdachtsmomente werden da in aller Regel nicht ausreichen. Es kommt aber jedenfalls auch auf eine Bewertung im Einzelfall an.
Da sieht sich Amazon nun wieder außen vor gelassen, weil durch angebliche täuschende Meldungen zu der Entscheidung der Eindruck entstehen könne, dass die Plattform sich nicht entschieden genug gegen fehlerhafte Bewertungen wehre und keinen angemessenen Austausch mit seinen Vertragspartnern pflege. Also mit anderen Worten: Allein dass ich in diesem Beitrag über die Verfügung schreibe, könnte einen Schaden darstellen, der den Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das BVerfG begründet – wäre dieser Beitrag „täuschend“.
Ich gebe mir natürlich größte Mühe, dass dieser Beitrag keine täuschende Meldung ist. Aus diesem Grund werde ich unten auch ein paar fachliche Hintergründe darstellen, was es mit den kartellrechtlichen Ansprüchen der Händler gegenüber Amazon auf sich hat. In meiner Doktorarbeit habe ich mich damit noch etwas tiefgehender auseinander gesetzt. So unsicher wie von Amazon dargestellt ist das nämlich nicht.
Außerdem, als marktbeherrschendes Unternehmen einen Geschäftspartner auf bloßen Verdacht hin zu sperren ist allemal kein angemessener Austausch. Es ist wohl eher Aufgabe Amazons, bei der Ausübung seiner unternehmerischen Entscheidungen nicht erst den Eindruck aufkommen zu lassen, sich missbräuchlich oder willkürlich zu verhalten.
Das BVerfG sieht dies auch nicht als mögliche Nachteile an, die mit dem Erlass seiner einstweiligen Anordnung berücksichtigt werden könnten. Zudem würde eine Entscheidung gleichzeitig eine Vorwegnahme der Hauptsache bedeuten. Es ist also gerade der Sinn des zivilprozessualen Verfahrens auf Erlass einstweiliger Verfügungen, einstweilige Zustände zur Sicherung der Rechte herzustellen.
Welche Grenzen hat Amazon bei der Sperre von Verkäuferkonten?
Das LG München I hat in dem vorgetragenen Sachverhalt einen Anspruch des Händlers auf Unterlassung der Kontosperre gemäß § 33 Abs. 1 GWB i.V.m. § 19 Abs. 2 Nr. 1 GWB angenommen. Das stützt das Gericht darauf, dass die Kontosperre eine unbillige Behinderung darstellt.
Was hat es mit dieser Begründung auf sich? Ein marktmächtiges Unternehmen darf nach § 19 Abs. 2 Nr. 1 GWB andere Unternehmen nicht unbillig behindern. Eine derartige unbillige Behinderung kann insbesondere bei einer Geschäftsverweigerung des Marktbeherrschers vorliegen. Hintergrund ist, dass dieses Unternehmen mit seiner Entscheidung über die Teilnahme nachfragender Unternehmen am Wettbewerbsprozess entscheiden kann. Doch nicht erst die endgültige Geschäftsverweigerung begründet einen Marktmachtmissbrauch, sondern auch ähnlich wirkende andere Ausschluss- oder Verdrängungspraktiken. Ein Vertrag muss nicht erst verweigert oder gekündigt werden.
Bei einem Verstoß gegen die kartellrechtlichen Verbote und damit auch gegen § 19 Abs. 2 Nr. 1 GWB steht dem Betroffenen gemäß § 33 Abs. 1 GWB ein Beseitigungs- oder Unterlassungsanspruch zu. Die Durchsetzung effektiven kartellrechtlichen Rechtsschutzes lässt sich in derartigen Konstellationen also als Unterlassen der missbräuchlichen Geschäftsverweigerung (bzw. der Sperre) zusammen fassen.
Wann ist eine Geschäftsverweigerung oder Sperre missbräuchlich?
Wenn durch sie wirksamer Wettbewerb eingeschränkt wird und keine objektive Rechtfertigung besteht. Für das erste Kriterium ist maßgeblich, dass das Angebot für die Teilnahme am Wettbewerb nicht ersetzt werden kann und diese Teilnahme unmöglich gemacht wird. Das zweite Kriterium ermöglicht dem Marktbeherrscher, eigene unternehmerische Entscheidungen noch zu treffen, soweit sie denn objektiv gerechtfertigt sind. Mit anderen Worten: Wenn und soweit er seine Geschäftsverweigerung oder Sperre objektiv begründen kann, ist sie auch zulässig.
Was kann eine objektive Begründung darstellen? Nachgewiesene Straftaten oder geschäftsschädigendes Verhalten sicher. Die Betonung liegt allerdings auf nachgewiesen. Das marktbeherrschende Unternehmen trifft also eine Obliegenheit zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Begründung seiner Entscheidung. Das ist damit gemeint, dass in diesem Fall Kundenrezensionen oder die Abläufe zur Manipulation vorgelegt werden müssten. Denkbar wären auch Nachweise wie Zeugenaussagen, dass ein Händler einen Dienstleister für die Abgabe positiver Rezensionen bezahlen möchte. Bloße Verdachte oder Gemunkel reicht nicht aus.
Was ist mit der Marktbeherrschung?
Das LG München I sieht das Verbot aus § 19 Abs. 2 Nr. 1 GWB bereits aufgrund der marktbeherrschenden Stellung. Es nimmt eine solche auf dem sachlich relevanten Markt der Erbringung von Dienstleistungen von Onlinemarktplätzen gegenüber Onlinehändlern an. Das liest sich recht plausibel, denn eine Austauschbarkeit mit Offlinemarktplätzen wird für viele Händler nicht so gegeben sein. Eine Austauschbarkeit mit anderen Plattformdiensten kommt wegen der spezialisierten Nachfrage auch nicht in Betracht. Hier sieht das Gericht einen im einstweiligen Rechtsschutz ausreichenden Anschein dafür, dass Amazon auf diesem Markt auch eine beherrschende Stellung inne hat, sodass die Plattform Adressatin des Missbrauchsverbots ist.
In dieser Konstellation wäre es dabei nicht einmal auf die Marktbeherrschung nach § 18 GWB angekommen. Diese beschreibt die Stellung auf einem bestimmten Markt. Daneben ermöglicht § 20 Abs. 1 S. 1 GWB die Anwendung des Behinderungs- und Diskriminierungsverbots auch bei sogenannter relativer Marktmacht. Dabei handelt es sich um einen Sonderaufgreiftatbestand unterhalb der Schwelle der Marktbeherrschung. Es kommt dabei allein auf die Frage an, ob ein Unternehmen von einem anderen Unternehmen abhängig ist und ein Ausweichen auf die Leistungen anderer Unternehmen nicht zumutbar ist. Ich habe dazu in meiner Doktorarbeit dargestellt, dass auch eine sogenannte plattformbedingte Abhängigkeit bestehen kann. Auch unter diesem Gesichtspunkt wäre die Entscheidung des LG München I vertretbar.
Und schließlich: Hätte Amazon noch angehört werden müssen?
Mal eine Gegenfrage: Was hätte Amazon dann wohl vortragen können? Die Gelegenheit zur Darlegung und zum Beweis konkreter Umstände, die eine Sperre rechtfertigen, hatte die Plattform verstreichen lassen. Das wäre aber erforderlich gewesen. Und natürlich sind „digitale Sachverhalte“ derzeit noch neu und man kann darüber gelegentlich trefflich streiten. Die Grundlagen zur missbräuchlichen Geschäftsverweigerung, um die es hier geht, sind es jedoch nicht. Es ist doch nur alter Wein aus neuen Schläuchen.